Regierungen
Ungarn geht uns alle an

Viktor Orbán möchte aus Europa einen losen Bund von Nationalstaaten – mit einem gemeinsamen Binnenmarkt – machen.

15.11.2016 | Stand 16.09.2023, 6:42 Uhr

Prof. Dr. Wolfgang Aschauer ist Privatdozent der Universität Potsdam und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Südosteuropagesellschaft.

Moderne Staaten sind meist eine Mischform aus zwei politischen Systemen: dem Untertanenstaat, in dem die Regierung alle politischen Entscheidungen trifft und (im besten Fall) für das Wohl der Bürger sorgt, und dem Politikmodell der good governance, das sich durch Partizipation der Zivilgesellschaft und Transparenz auszeichnet. In der Bevölkerung existiert eine ähnliche Mischung von politischen Orientierungen: Für manche bedeutet politische Macht eine Art Geschäft, bei dem die Regierenden über viele Bereiche des alltäglichen Lebens bestimmen und die Regierten im Gegenzug von diesen Entscheidungen profitieren. Für andere hingegen ist politische Macht ein Zustand, auf den durch eigenes, alltägliches Handeln Einfluss genommen werden kann und muss. Im Hinblick auf diese beiden Mischungsverhältnisse unterscheiden sich die europäischen Staaten, was aber an sich noch nicht Probleme auslösen muss.

Deshalb kann man sich zu Recht die Frage stellen, weshalb die politischen Veränderungen in Ungarn zu so starken Irritationen in Deutschland und anderen Staaten geführt haben. Ist das nicht ausschließlich Sache der Ungarn, und sollte es hierzulande nicht zur selben Reaktion führen wie wenn dort ein Sack Paprika umfällt? Unbestreitbar hat in Ungarn eine Entwicklung hin zu einem – nationalistisch überwölbten – Untertanenstaat mit teilweise monarchistischen Zügen stattgefunden. Aber was geht das Deutschland an?

Auf diese Fragen gibt es mehrere Antworten, von denen ich nur zwei anführen möchte. Die einfache Antwort lautet: Wenn wesentliche Teile des ungarischen Staatshaushalts von den deutschen (und anderen europäischen) Steuerzahlern getragen werden, so liegt es im ureigensten Interesse dieser Steuerzahler, wenn die Regierung schärfstens beobachtet und auch kritisiert, zu welchen Zwecken (etwa: Schaffung riesiger privater Vermögen im Regierungsumfeld) diese Gelder verwendet werden.

Die zweite Antwort ist komplizierter und grundsätzlicher. Erklärtes Ziel der meisten europäischen Staaten, so auch Deutschlands, ist die Schaffung einer europäischen Innenpolitik mit Elementen wie der Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung, der Existenz einer unabhängigen Presse und einer wichtigen Rolle der Zivilgesellschaft, d. h. letztlich die Sicherung von good governance. Und das heißt auch: Einflussnahme auf Entwicklungen in Ungarn. Die ungarische Regierung hingegen sieht sich als führende Kraft einer entgegengesetzten Richtung, nämlich der Rückabwicklung der europäischen Integration hin zu einem losen Bund von Nationalstaaten, der lediglich einen gemeinsamen Binnenmarkt und – selbstverständlich – Transferzahlungen seitens der reicheren Staaten aufweist.

Die deutsch-ungarischen Konflikte reichen deshalb weit über einzelne strittige Fragen hinaus. Sie tangieren vielmehr ein grundsätzliches Problem, nämlich die Entscheidung über die Bewahrung eines gemeinsamen Europas oder dessen Zerfall in konkurrierende und letztlich einander feindselig gegenüberstehende Nationalstaaten. Diesen Streit zu führen, ist daher kein Thema abgehobener polit-philosophischer Erörterungen, sondern geht uns alle an.