MZ-Serie
Falsche Anklage nach Entführung

Die großen Schlagzeilen Ostbayerns: 1972 entführten Tschechen ein Flugzeug von Marienbad nach Weiden. Der Pilot kam dabei ums Leben.

15.03.2013 | Stand 16.09.2023, 7:25 Uhr
Fritz Wallner

Schaulustige stehen am Flugplatz Weiden-Latsch um die Maschine der Slov Air, die von Marienbad in den Westen entführt wurde. Im Handgemenge hatte sich im Cockpit ein Schuss gelöst, der den Piloten Jan Micica tötete. Die deutsche Mordanklage war aber offenkundig falsch. Foto: Günther Hastreiter

Dr. Rainer Burckhardt war mit dem Auto auf dem Weg zu einem Kongress in München, als er im Radio eine abenteuerliche Meldung hörte: Eine tschechische Passagiermaschine war von Marienbad nach Weiden entführt worden. „Ich bin sofort zum Flugplatz Latsch gefahren, ich war dort Segelflieger“, sagt der Zahnarzt heute. Dort herrschte große Aufregung. Polizei, Schaulustige, Menschen riefen „Rübe ab, Tschechen raus.“ Und Burckhardt fiel eine junge Tschechin auf, die ein weinendes Kleinkind im Arm trug. Er und seine Frau kümmerten sich um Olga und erlebten in den darauffolgenden Jahren, wie schwer das Leben manchen Menschen mitspielen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.

Gewalt war nicht beabsichtigt

Der 8. Juni 1972 ist ein Donnerstag. Mehrere Monate lang hatten sich in Tschechien zehn junge Menschen auf eine spektakuläre Flucht vorbereitet. An der Graspiste des Flugplatzes Marienbad wartete eine zweimotorige Passagiermaschine vom Typ Turbolet L-410 auf die 15 Passagiere, die mit der Slov-Air in das slowakische Lucenec fliegen wollten. Zehn der Fluggäste sind Entführer – sie hatten sich den westböhmischen Provinzflugplatz ausgesucht, weil es hier nur laxe Sicherheitskontrollen gab – nicht einmal ein Metalldetektor war vorhanden. Problemlos gelang es ihnen, zwei Pistolen in die Maschine zu schmuggeln. Die jungen Leute um Lubomir Adamica, 22 Jahre alt, hatten die Nase voll vom Sozialismus. Sie wollten in den Westen. Mit den Pistolen, so der Plan, sollten die Piloten bedroht und zur Kursänderung gezwungen werden – tatsächlich Gewalt anzuwenden hatten sie eigentlich nicht vor. Doch es sollte anders kommen. Kaum hatte Pilot Jan Micica abgehoben und Kurs Richtung Slowakei genommen, kam Lubomir Adamica mit der Pistole in der Hand in das Cockpit. Was dann genau geschah, ist bis heute noch nicht geklärt. Es muss zu einem Handgemenge zwischen dem Entführer und dem Piloten gekommen sein, bei dem sich ein Schuss löste und Micica tötete.

Mit seinem sterbenden Kollegen auf dem Schoß steuerte Copilot Dominik Chrobak den nächstgelegenen Flugplatz im Westen an. Seine Wahl fiel auf den kleinen Verkehrslandeplatz in Weiden-Latsch, dessen 570 Meter lange und nur zehn Meter breite Piste für die Turbolet eigentlich viel zu knapp bemessen war. Dennoch brachte er die Maschine auf den Boden.

Die Nachricht von der spektakulären Flugzeugentführung aus dem Ostblock schlug in Weiden wie eine Bombe ein. Sofort rückte ein großes Polizeiaufgebot an und nahm die Flugzeugentführer fest. Lubomir Adamica stand von Anfang an unter Mordverdacht. Sogar der „Spiegel“ berichtete damals: „Im Handgemenge fiel ein verhängnisvoller Schuss. Adamica schoss den Chef-Piloten Jan Micica aus 1,5 Zentimetern Entfernung in den Hals“. Der damalige Weidener Oberstaatsanwalt Wilhelm Meier erklärte, die Entführer seien „aufgrund ihrer in der CSSR auffälligen Kleidung, schulterlanger Haartracht und ihres Gesamtverhaltens immer wieder in Konflikt mit der Prager Polizei geraten“ und hätten sich „im westlichen Ausland ein besseres und ungebundenes Leben“ erwartet. In der Tschechoslowakei wurden die Jugendlichen von der kommunistischen Propaganda als verbrecherische Vereinigung dargestellt. Die deutsche Anklage lautet auf schwere Luftpiraterie und bei Adamica zusätzlich auf vorsätzliche Tötung. Aus Verzweiflung erhängte sich der junge Mann in seiner Zelle mit einem Handtuch.

40 Jahre mit dem Ereignis hat sich der tschechisch-deutsche Künstler Petr Vrana mit der Entführung auseinandergesetzt. Dabei, so berichtete Radio Prag im vergangenen Sommer, sei er auf Fakten gestoßen, die die Tat neu bewerten und die deutsche Justiz nicht gut aussehen lassen.

Vrana recherchierte in den Akten der tschechoslowakischen Geheimpolizei Státní bezpecnost (StB) und fand heraus, dass die Entführer keineswegs vorbestraft waren, wie dies von der bayerischen Justiz damals behauptet worden war. Offenbar ist die Weidener Staatsanwaltschaft, die in reger Korrespondenz mit der Prager Staatssicherheit stand, auf gefälschte Geheimdienstinformationen hereingefallen.

Grundlage für die Mordanklage gegen Adamica war auch ein eiliger Autopsiebefund des toten Piloten, der schon am nächsten Tag in die Tschechoslowakei zurückgebracht worden war. In Prag unternahmen Ärzte dann eine genaue Obduktion, deren Ergebnisse Vrana in den Akten wiedergefunden hat. Dabei stellte sich heraus, dass die Kugel nicht am Hals in den Körper ein und an der rechten Seite unten wieder ausgetreten war. Laut dem Befund aus Prag ging das Projektil im Gegenteil von unten nach oben durch den Körper. Somit, so schlossen Vrana und zwei tschechische Kriminalbeamte, die zur Unterstützung herangezogen wurden, hatten Pilot und Entführer die Waffe in der Hand, als der Schuss fiel. Der Pilot könnte sich selbst erschossen haben.

Ein Fall für Major Zeman

Den Kommunisten in Prag kam es gerade Recht, dass die neun Entführer von der deutschen Justiz hart bestraft wurden. Die langhaarigen und unangepassten Jugendlichen wurden auch im Westen zu Schwerverbrechern gestempelt, was die eigene Propaganda ungemein unterstützte. Sogar das Staatsfernsehen sprang auf und verarbeitete die Story in einer Folge der Krimiserie „Major Zeman“ – der Ostblock-Derrick. Langhaarig und kriminell: Das passte gut zusammen.

Zu Olga hat der heute 72-jährige Zahnarzt Burckhardt immer noch Kontakt. Sie schreibt gerade ein Buch über ihre damaligen Erlebnisse.