Kultur
Verfolgtes Genie: „Turing“ am Staatstheater Nürnberg

13.12.2022 | Stand 15.09.2023, 2:28 Uhr
Roland Dippel
„Ich bin eine Insel“: Martin Platz als Titelheld Turing. Die Oper ist bis zum 12. Februar in Nürnberg zu sehen. −Foto: Olah

Komponist Anno Schreier widmet dem Computer-Genie Alan Turing eine Oper. Am Staatstheater Nürnberg wurde das Werk enthusiastisch gefeiert.

Erst 2009 leistete Premierminister Gordon Brown Abbitte für die „entsetzliche Art“, wie Großbritannien Alan Turing behandelt hatte – 55 Jahre nach dem Suizid des Computer-Vordenkers. Man hatte Turing gegen seine Homosexualität eine Hormontherapie verordnet, seine Depressionen wurden schlimmer. Am 7. Juni 1954 nahm sich der Informatik-Pionier, erst 42 Jahre alt, das Leben: Es biss in einen mit Zyanid präparierten Apfel.

Nach Stewart Copelands „Electric Saint“ über Nikola Tesla beim Kunstfest Weimar 2021 kommt mit „Turing“ innerhalb kurzer Zeit eine weitere Oper über einen wichtigen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts auf die Bühne. Ihr Komponist Anno Schreier (Jahrgang 1979) feiert seit Jahren Musiktheater-Erfolge wie „Hamlet“ (Wien 2016) und „Schade, dass sie eine Hure war“ (Düsseldorf 2019). Im Opernhaus Nürnberg wurde „Turing“ enthusiastisch gefeiert, allen voran Matthias Platz in der Titelrolle. Die wichtigste Partie neben Turing übernimmt Andromahi Raptis. Sie verkörpert als Madame KI mit fast befremdlich warmen Strahletönen eine virtuelle Vertrauensperson des Genies, das – nach einer kurzen Liebe zum Mitschüler Christopher Malcom – so gut wie beziehungsunfähig war.

Turings Leistungen für die Dechiffrierung verschlüsselter deutscher Funksprüche trugen entscheidend zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg bei. Auch in der Oper nehmen die mit Morse-Fragmenten durchsetzten Kriegsszenen breiten Raum ein, wenn Turing durch Vorwürfe des Kollegen Max (Wonyong Kang) in einen moralischen Konflikt gerät.

„Ich bin eine Insel“, singt Turing immer wieder. Für seine Umwelt wird er durch seltsame Absencen, die eigentlich geschärfte Konzentration sind, zum Rätsel: Vor allem für seine Universitätskollegin Joan, die Turing durch Heirat vor Brandmarkungen aufgrund seiner Homosexualität schützen will. Die Frauen in seiner Nähe – die dritte neben Madame KI und Emily Newton als Joan ist Almerija Delic als Turings Mutter – verfügen über kräftige und hier mit vitalem Notenmaterial versorgte Stimmen. Dankbar bedacht sind alle Partien, inklusive des als Kommentator nach Vorbild der antiken Tragödie und für eingreifende Instanzen genutzten Chors des Staatstheaters Nürnberg (Leitung: Tarmo Vaask).

Anno Schreier und Musikdramaturg Georg Holzer zeichnen in ihrem Textbuch keine reale Biographie. Beim Tod des unvorteilhaft aufgedunsenen Turing fällt dessen riesiges Porträt zu Boden. Da kommt es in der mit Lust aus allen neuzeitlichen Musikepochen schöpfenden Partitur Schreiers zu einer letzten Stil-Anleihe für Janacek-artige Akkordzacken.

Mit der Staatsphilharmonie packt Dirigent Guido Johannes Rumstadt bei Schreiers elegischem, brachialem und burlesken Angeboten kräftig zu, übersieht aber manchmal die ironischen Zeichen in der Partitur.

Investigative Polizisten (Veronika Loy und Mats Roolvink) singen à la Johann Sebastian Bach. Die juristische und damit moralische Verurteilung walzt wie ein Mendelssohn-Choral über Turing hinweg. Komponist Schreier gibt seinem Titelhelden und dessen vermauerten Innenwelten eine gleißend charismatische Tonsprache.

Staatsintendant Jens-Daniel Herzog als Regisseur und Mathis Neidhardt als Bühnenbildner definieren psychische und physische Räume klar und deutlich. Eine schwule Disko gestalten sie mit fast unbeholfenem Bewegungsvokabular. Matthias Platz widmet sich den spröden bis lyrischen Phasen Turings mit versachlichender Hochspannung und überhöht ihn mit leiser Intensität zum ätherischen Wesen in der Hülle eines Buchhalters. Alles um ihn wirkt griffiger als Turing selbst. Musiktheatrales Blendwerk auf hohem Niveau.