Queer-Streifen-Festival
Angelique Nagel und ihr Mut, sie selbst zu sein

Eine Dokumentation erzählt von der Moosburgerin, die sich als eine der ersten in Deutschland als Transfrau outete

25.10.2023 | Stand 26.10.2023, 10:33 Uhr

Angelique Nagels Erzählung ist mit starken Bildern illustriert – die Spiegel spielen auf ihren früheren Friseurberuf an. Fotos: Neumaier

Von Katharina Kellner

Wenn Angelique Nagel heute auf ihr früheres Leben blickt, dann tut sie das mit Distanz: „Für mich ist die ganze Geschichte, als hätte ich es irgendwo gelesen und es betrifft mich gar nicht. Es ist so weit weg.“ „Es“, das war in den 1960er Jahren nicht weniger als ein Tabubruch: Nagel war eine der ersten in Deutschland, die sich als Transfrau outete – nicht in New York oder Berlin, sondern in der oberbayerischen Kleinstadt Moosburg.



Zu ihrer Zeit konnten sich queere Menschen keine Informationen, Vorbilder oder Mitstreiter im Internet suchen. Doch Angelique Nagel wusste früh, was sie will und ging unglaublich konsequent ihren Weg: 1950 geboren als Willibald Aschenbrenner, war sie schon als Kind fasziniert von den eleganten und schön frisierten Frauen im Friseursalon der Familie. Später fühlte sie sich wohler in einem homosexuellen Freundeskreis als mit Heteros – doch so richtig habe sie sich nicht zugehörig gefühlt, sagt sie im Film. Der Moment, als sie in einer Zeitschrift zum ersten Mal über Transsexualität las, traf sie wie ein Blitzschlag. „Ein total befreiendes Gefühl“ sei das gewesen und zu ihrer Mutter sagte sie: „Lies mal, das bin ich!“

Längere Schleppe als Lady Di

So erzählt sie es im Dokumentarfilm von Elisabeth Kratzer, den das Queer-Streifen-Festival in Regensburg nun zeigte. Ein Arzt bescheinigte ihr, von der Psyche her 100-prozentig eine Frau zu sein. „Das war mein befreiender Triumph“, kommentiert Nagel – gleich am nächsten Tag sei sie als Frau geschminkt, frisiert und gekleidet ins Geschäft gegangen. Diskriminierende Sprüche konterte sie mit absichtlichen Provokationen und besonders hohen Absätzen. Körperlich angegriffen worden sei sie nicht.

Nagel hat hart darum gekämpft, die Frau zu werden, als die sie sich fühlte. Als sie 1969 nach Casablanca flog, um sich einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen, da bezahlte sie nicht nur viel Geld: 10.000 D-Mark, die sie sich selbst im Friseurladen verdient hatte. Sie ging auch ein enormes Risiko ein, denn diese Art von OP fand auf eigene Gefahr statt. Sie nahm es trotzdem auf sich. Alles ging gut. Eine Woche nach ihrer Rückkehr frisierte sie wieder Kundinnen – „als vollkommen neue Person“.

Dass sie im Friseursalon groß wurde, hat sie geprägt. Als sie begann, öffentlich als Frau gekleidet aufzutreten, tat sie das äußerst selbst- und stilbewusst – mit eleganten Kostümen, auffälligen Hüten und perfektem Makeup, wie auf Fotos im Film zu sehen ist. Beim Publikumsgespräch des Festivals im Regensburger Kino im Andreasstadel tritt sie genauso elegant auf wie im Film. Und Humor zeigt sie auch: Als während des Interviews im ersten Stock lautes Kratzen zu hören ist, macht sie Witze über Holzwürmer und knurrende Mägen.

Man merkt schnell, sie kann ziemlich gut mit Menschen. In Moosburg hatte sie früh ein Standing: Schon nach dem ersten Lehrjahr habe sie ihre Stammkundinnen gehabt, erzählt sie im Gespräch. Später machte sie sich selbstständig – ihr Ehrgeiz, Talent und Perfektionismus machten den Salon „Angelique“ groß und lockten Kundinnen bis aus Regensburg und dem Münchner Umland an.

1981 heiratete sie in Moosburg Kurt Nagel. Auch bei dieser Gelegenheit brachte sie durch ihre selbstbewusste Ausstrahlung zustande, dass derselbe Pfarrer, der sie als Junge getauft hatte, sie als Frau traute. 250 Gäste kamen, das Paar fuhr in einer Kutsche vor, die Zeitungen berichteten. Nagel sagt im Film: „Im selben Jahr heiratete Prinzessin Diana, die sieben Meter Schleppe hatte. Ich habe mir gedacht, was die kann, kann ich schon lang – und habe neun Meter genommen. Die Hochzeit war der absolute Highlight-Abschluss für mich als Frau.“

Sie hasste den Drill im Internat

Als sehr „lebenshungrig“ bezeichnet Nagel sich selbst. Sie organisierte Modenschauen, war beruflich und privat unterwegs im Münchner Nachtleben, traf viele Promis. Doch sie verließ Moosburg nicht, obwohl es in der Großstadt für sie wohl einfacher gewesen wäre. „Moosburg hat mich geerdet“, sagt sie.

Auch die 1993 geborene Regisseurin Elisabeth Kratzer kommt aus Moosburg. Mit 13 Jahren hat sie sich im Friseursalon Angelique Strähnchen färben lassen. Später suchte sie ein Thema für ihren Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München, wo sie Dokumentarfilmregie und Fernsehpublizistik studiert hat. Ihre Mutter brachte sie auf die Idee, einen Film über Angelique zu drehen: „Ihre Geschichte kannte ich nur in Bruchteilen – die Leute in Moosburg reden ja immer noch viel.“ Ihr sei es wichtig gewesen, Angeliques ganze Geschichte zu erzählen.

Der Film konzentriert sich alleine auf Nagels Perspektive. Ihre Erzählung ist illustriert mit stimmungsvollen Bildern von den stilvoll eingerichteten Räumen ihres Hauses in Moosburg und raffinierten Spiegelungen.

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Nagel mag Kratzers Film sehr und ist bei vielen Publikumsgesprächen an ihrer Seite. Natürlich gebe es noch viel, was der 30-Minüter nicht erzähle, sagt sie beim Gespräch in Regensburg. Welch außergewöhnliches Leben sie gelebt hat, lässt im Film die Fotowand in ihrem Haus erahnen. Vieles war schillernd, doch gibt es auch traurige Kapitel: Im Alter von sechs Jahren war Nagel ins Internat nach Wartenberg gekommen. Den Drill dort habe sie gehasst, war sie doch das freie Leben im Friseursalon gewohnt, wo sie wegen der Berufstätigkeit ihrer Mutter „zwischen Tür und Angel aufgewachsen“ war. Eine traumatisierende Erfahrung, doch auch bei dieser Erinnerung bricht bei Angelique Nagel ihr Humor durch: „Meine Geschichte könnte acht Staffeln auf Netflix füllen“, sagt sie.

Man glaubt es ihr sofort.

Die Dokumentation „Angelique“

Regisseurin: Elisabeth Kratzer tourt mit ihrem 2022 entstandenen Film von Festivals zu Festival – und räumt Preise ab. Nun erhielt sie auf dem Juvinale Nachwuchsfilmfest Salzburg den Doku-Award und den Förderpreis „Gender & Diversity“.

Film: Sie gewann auch den Jury-Kurzfilmpreis der 56. Hofer Filmtage. Kratzer und Kameramann Pius Neumaier setzen in ihrer Doku einen unaufgeregten Ton – und ihr Vertrauen ganz in die Präsenz ihrer starken Protagonistin.