Wirtschaft und Gesellschaft
Schaden oder Segen: Das neue Selbstbewusstsein der Gewerkschaften

Es gibt mehr Streiks und höhere Forderungen – Schadet das der Wirtschaft?

09.03.2024 | Stand 09.03.2024, 15:21 Uhr

Arbeitnehmer entwickeln in den vergangenen Jahren ein höheres Selbstbewusstsein. Foto: imago

Die aktuellen Streiks führen zu Schäden in der Wirtschaft. Sie lassen die Diskussion aufflammen: Haben Gewerkschaften zu viel Macht? Die aktuelle Entwicklungen kommt ihnen jedenfalls entgegen.




Ein Thema, zwei Meinungen:

Lesen Sie dazu auch das Pro und Kontra von Christian Eckl, der seinen Standpunkt mit „Land des Stillstands“ überschreibt und Bernhard Fleischmann. Er findet: „Gewerkschaften nutzen allen“




Dieser Tage kam es für die reisenden oder auch nur pendelnden Bundesbürger wieder knüppeldick: Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer GDL legte bremste erneut die Bahn aus, gleichzeitig erzwang Verdi, dass bei der Lufthansa Flugzeuge nicht abheben konnten. Gerade solche Ausstände im Verkehrswesen sorgen für Unmut. Ganz besonders, wenn GDL-Vorsitzender Claus Weselsky auf den Plan tritt. Hier steht immer der Verdacht im Raum, dass es nicht allein um mehr Geld oder geringere Arbeitszeiten, sondern um die Profilierung und Mitgliederwerbung einer kleinen Gewerkschaft geht.

Unternehmer bremsen



Nun sind in den vergangenen Tagen und Wochen eher negative Nachrichten aus der Gesamtwirtschaft publik geworden. Die Prognose für das Wirtschaftswachstum ist nach unten revidiert worden, inzwischen steht in Frage, ob in diesem Jahr überhaupt ein Plus möglich ist. Das dämpft die Bereitschaft der Unternehmer, ihren Beschäftigten entgegenzukommen. Stattdessen fordern die Unternehmerverbände immer massiver Entlastungen: Sie wollen weniger Bürokratie, weniger Steuern, weniger Vorschriften, im Gegenzug mehr und bessere Infrastruktur im Verkehrsbereich, in der Digitalisierung und mehr. Auf der anderen Seite fühlen sich Gewerkschaften mehr als in den Vorjahren in einer Position, in der sie höhere Forderungen stellen – und durchsetzen – können. Beziehungsweise aus ihrer Perspektive auch müssen. Denn die hohe Inflation hat den Menschen stark zugesetzt − finanziell sowieso, aber sie hat sie in der Folge auch verunsichert. Dies drückt sich in Unzufriedenheit mit der Politik aus.

„Ganz viele Menschen haben heute eine geringere Kaufkraft, weil die Löhne in den letzten drei Jahren deutlich weniger stark gestiegen sind als die Preise und die Menschen jetzt einen Ausgleich für diesen Kaufkraftverlust haben möchten“, glaubt DIW-Chef Marcel Fratzscher.

Mehr Geld, geringere Arbeitszeit



Hinzu kommt, dass die Arbeitslosigkeit niedrig ist und Arbeitskräfte gesucht sind. Wer protestiert und mehr fordert, hat heute ein geringeres Risiko, deswegen berufliche Nachteile zu erleiden. „Wir haben 1,8 Millionen offene Jobs. Das macht die Beschäftigten selbstbewusster“, ergänzt Fratzscher. Deswegen streiken die Beschäftigten nicht nur für mehr Geld, sondern auch für weniger Arbeitszeit. Insgesamt werde sich die Verschiebung von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt in den kommenden Jahren noch beschleunigen, mutmaßt Fratzscher. „Ich sehe die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren mehr Streiks und Arbeitskämpfe sehen werden.“

In diesem Jahr stehen wichtige Lohnrunden an, beispielsweise im Bankgewerbe, im Baugewerbe, in der Chemischen Industrie und in der Metall- und Elektro-Industrie. Mittlerweile mehren sich Befürchtungen, dass die forschere Gangart der Gewerkschaften zur Gefahr für den Standort Deutschland werden könnte – oder bereits ist. Dazu gibt es auch Zahlen.

Ein Tag bundesweiter Warnstreik bei der Bahn kostet, alle Effekte zusammengenommen, schätzungsweise etwa 100 Millionen Euro. Das hat das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln ausgerechnet. Bei mehreren Streiktagen hintereinander überlagern und verstärken sich die negativen Effekte für die Wirtschaft sogar noch, sodass der ökonomische Schaden sich teilweise multipliziert. Bei einem sechstägigen Streik nehmen die Wirtschaftswissenschaftler des IW deswegen an, dass der Schaden für die deutsche Wirtschaft bei fast einer Milliarde Euro liegen könnte.

Probleme durch Streiks



Die Gefahr liegt darin, dass in einer arbeitsteilig hochorganisierten Industrie die Lieferketten gestört werden oder abbrechen. „Wir haben uns nach der Coronapandemie und den Lieferkettenproblemen angewöhnt, wieder ein bisschen mehr Lager vorzuhalten. Aber das reicht bei vielen Unternehmen bei Weitem nicht, um so einen Verkehrsstreik zu kompensieren“, sagt Chris-Oliver Schickentanz von der Capitell AG. „Es kann bei den einen oder anderen Unternehmen durchaus zu Problemen in der Produktion kommen.“