Helmut Kentler vermittelte ab den 1960er Jahren gezielt Kinder an zum Teil vorbestrafte Pädokriminelle. Ein neuer Bericht zeigt, dass das Netzwerk des Pädagogen weit über Berlin hinausging.
Jahrzehntelang wurden Minderjährige aus der Kinder- und Jugendhilfe gezielt an vorbestrafte Pädokriminelle vermittelt - und das mithilfe eines deutschlandweiten Netzwerkes. Ein neuer Forschungsbericht der Universität Hildesheim zeigt auf erschreckende Weise, wie viel größer als bislang angenommen das Missbrauchsnetzwerk um den Sozialpädagogen Helmut Kentler war.
Noch über die Jahrtausendwende hinaus wirkte das Netzwerk, das pädophile Positionen und sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen nicht nur duldete, unterstützte und legitimierte, sondern auch selbst Gewalt ausübte, wie der in Berlin vorgestellte Bericht zeigt.
„Der bisherige Fokus auf die Person Helmut Kentler, auf die Pflegekinderhilfe, auf Berlin und auf die Zeit der 1960er Jahre und 1970er Jahre ist zu eng“, sagte Carolin Oppermann aus dem Wissenschaftsteam der Universität Hildesheim bei der Vorstellung des Berichts. Das mittlerweile zweite Forschungsprojekt der Uni habe gezeigt, dass zu dem sich „stützenden und schützenden“ Netzwerk nicht nur die Berliner Kinder- und Jugendhilfe gehörte, sondern auch Beteiligte aus Hochschulen, Forschungsinstituten, Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen sowie der evangelischen Kirche.
Pädokriminelle erhielten Pflegegeld
Kentler, der 2008 verstarb, war in den 1960er und 1970er Jahren Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin und anschließend Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover. Kentler glaubte, dass sich pädophile Männer als Pflegeväter besser um ihre Schützlinge kümmern würden als andere Pflegeeltern. Er bezeichnete die Praxis als „wissenschaftliches Experiment“.
Dass die Männer dafür Sex wollen könnten, war für den seinerzeit weithin anerkannten Psychologen und Sexualforscher kein Hinderungsgrund. Die Pädokriminellen erhielten sogar Pflegegeld. Kentler wurde später nicht strafrechtlich verfolgt, weil seine Taten verjährt waren.
Als zentrale Knotenpunkte für den strukturellen Machtmissbrauch nennt der Bericht neben Berlin auch Göttingen, Hannover, Lüneburg, Tübingen und Heppenheim. Die Akteure hätten entweder sexualisierte Gewalt ausgeübt, aktiv ermöglicht oder wissentlich geduldet. Die Täter, die sexualisierte Gewalt ausübten, waren dem Bericht zufolge fast ausschließlich männlich, die hochrenommierte wissenschaftliche oder pädagogische Positionen innehatten. Einige von ihnen waren am Pädagogischen Seminar Göttingen und im niedersächsischen Landesjugendheim tätig. Göttingen war den Forschern zufolge eine Art „Ursprungsknotenpunkt“, an dem die Beteiligten ihre „vermeintlich 'reformorientierten Ideen'“ entwickelten.
Leid der Betroffenen ist groß
Der Bericht basiert auf der Basis von Gesprächen mit Betroffenen, Zeitzeugeninterviews, Dokumenten und Aktenanalyse. Es ist das zweite Aufarbeitungsprojekt der Universität Hildesheim. Der erste Bericht wurde im Jahr 2020 veröffentlicht. Insgesamt hat das Land Berlin durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie damit drei Projekte zu dem Missbrauchsskandal in Auftrag gegeben.
Insgesamt meldeten sich sechs Betroffene bei dem Wissenschaftsteam. Mit fünf davon wurden Interviews geführt. Zwei von ihnen waren bei der Aufnahme in die Pflegestelle 5 Jahre alt, die drei weiteren zwischen 13 und 15. Die Betroffenen hätten lange nicht gewusst, an wen sie sich wenden könnten, sagte Oppermann. Ihre Erzählungen würden teils noch bis heute, sowohl in familiären als auch in öffentlichen Kreisen, nicht ernst genommen. „Alle Betroffenen schildern ihre massiven Ängste und ihre Verunsicherung, die Gewalterfahrungen öffentlich zu machen und von bestehenden wissenschaftlichen Netzwerken diffamiert, verletzt oder zurückgewiesen zu werden.“
Gewalt wurde bewusst in Kauf genommen
Die Aktenanalyse habe deutlich gezeigt, dass von einer „Institutionalisierung der Gewalt“ gesprochen werden kann, sagte Nastassia Laila Böttcher von der Universität Hildesheim. Die Art der Unterbringung der Minderjährigen sei von den Behörden kaum hinterfragt worden. Vielmehr hätten die „Argumente, Angebote bis hin zu Wünschen“ der Akteure des Netzwerks als fachliche Begründung ausgereicht.
Die Hilfebedarfe der Kinder- und Jugendlichen hingegen seien nicht wahrgenommen worden. Vielmehr seien die jungen Menschen als „Objekte der Heimerziehung instrumentalisiert worden“, wobei Gewalt „bewusst in Kauf genommen wurde“, sagte die Wissenschaftlerin. Der sexuelle Kindesmissbrauch sei unter der Verantwortung des Landesjugendamtes und der Berliner Senatsverwaltung durchgeführt und institutionalisiert worden.
Wie kann es sein, dass niemand etwas von dem Leid der Kinder und Jugendlichen mitbekam? „Es gab starke Signale, dass etwas in den Pflegestellen nicht stimmte, dem wurde nicht nachgegangen“, sagte Julia Schröder aus dem Wissenschaftsteam. Zur Vertuschung wurden Vorfälle von sexualisierter Gewalt in der öffentlichen Verantwortung laut dem Forscherteam als Einzelfälle bezeichnet oder in einen gewissen Zeitgeist gestellt - im Sinne von „das war damals so“.
Kein „historischer Schlussstrich“ möglich
Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) sagte, der Ergebnisbericht mache deutlich, wie wichtig die Aufarbeitung sei, um die Mechanismen zu verstehen, die Missbrauch ermöglicht hätten. „Es gibt uns aber auch für die Zukunft die Möglichkeit, die Kinder- und Jugendhilfe institutionell zu sensibilisieren, kontinuierlich kritisch zu überprüfen und auch weiterzuentwickeln.“ Die bekannten Betroffenen hätten zur Entschädigung Geld bekommen, sagte die Senatorin. Sollten sich weitere Betroffene melden, käme auch ihnen eine Entschädigung zu.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machten deutlich, dass die Aufarbeitung nicht zu Ende sei und Betroffene sich weiter bei dem Team melden könnten. „Es gibt keinen historischen Schlussstrich“, sagte Schröder.
Verpflichtendes Lehrprogramm im Studium gefordert
Als Reaktion auf den Bericht teilte die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, mit, dass einiges getan werden müsse, damit sich solche Taten nicht wiederholten. „Dafür müssen Fachkräfte in der Sozialen Arbeit zum Beispiel gut qualifiziert sein, besonders wenn sie im Kinderschutz eingesetzt werden und es um den Gefährdungsbereich sexueller Gewalt geht.“
Schon im Studium müsse verpflichtend vermittelt werden, was sexuelle Gewalt begünstige, wie Täterstrategien funktionierten und welche Signale Kinder aussenden könnten.
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