Volksmusik
Atemlos im Kastelruther Spatzenland

30 000 Fans machen beim Spatzenfest Kastelruth zum Mekka der Volksmusik. Was macht diese Band seit 30 Jahren richtig?

14.10.2015 | Stand 16.09.2023, 6:56 Uhr
Mario Geisenhanslüke

Norbert Rier singt immer in Tracht. Foto: Ottmar Seehauser

Selbst 82 Meter über dem Dorf ist eine Flucht unmöglich – eine Flucht vor der Volksmusik. Links die idyllische Seiser Alm: grüne Wiesen, die Sonne taucht den 2563 Meter hohen Schlern in gleißendes Licht. Rechts der malerische Ortskern von Kastelruth: rote und graue Dächer, dazwischen viele kleine Grüppchen von Menschen.

Doch auch bis hinauf auf die Spitze des historischen Kirchtums wabern Schlagzeugrhythmen, Trompetenklänge bahnen sich ihren Weg durch Luftschichten. Auch hier schleichen sie sich wieder an: ein Lied nach dem anderen der Kastelruther Spatzen.

Es ist Spatzenfest. Einmal im Jahr lädt die erfolgreichste deutschsprachige Volksmusik-Gruppe ihre Fans zum Heimspiel in ihre Südtiroler Heimat. Drei Tage, fünfmal die Spatzen auf der Bühne, 30 000 Besucher insgesamt – ein Dorf im Ausnahmezustand. Am Freitag passend die Nachricht aus Deutschland: Nach drei Jahrzehnten hat die Gruppe mit ihrem neuesten Werk „Heimat – Deine Lieder“ zum ersten Mal ein Nummer-Eins-Album herausgebracht.

Das Konzert – ein Drama in drei Akten

Doch oder viel mehr gerade angesichts all solcher Superlative wird das Abendkonzert am Samstag eine herbe Enttäuschung – ein Drama in drei Akten.

Akt eins: Alexander Rier steht völlig allein auf der Bühne. Der Sohn des Kastelruther-Spatzen-Frontmanns Norbert als Ein-Mann-Vorband. Er trägt bewusst keine Tracht, sondern Jeans, Hemd und ein braunes Jackett. Doch mit Songs wie „Du bist die Frau, die keinen Bauern sucht, denn du hast ja mich“ reißt er die Menge nicht mit. Erst mit einem Medley rund um Wolfgang Petrys Klassiker „Hölle, Hölle, Hölle“ kommt Stimmung ins Zelt. Licht aus, Umbaupause. Gleich kommen die Kastelruther Spatzen.

Rückblick: Norbert Rier kommt zu spät zum Interview. Er ist am Samstag an seinem Hof noch von Fans aufgehalten worden. Daran hängt der Spatzen-Frontmann: an der Heimat – wie auch die anderen sechs Mitglieder der Gruppe aus diesem am wenig italienischsten Teil Italiens. Und das schätzen die Fans.

Jetzt mit am Tisch sitzen Albin Gross, Keyboarder und seit dem Weggang des Oberpfälzers Helmut Brossmann (Warum der keinen Groll gegen die Spatzen hegt, lesen sie hier!) auch wieder Manager der Band, und Trompeter Walter Mauroner. Der Veranstalter Semmel Concerts hat einen Tross deutscher Journalisten eingeladen, um die PR-Maschinerie am Laufen zu halten.

Beim Interview redet fast nur Rier: über die Geschichte der Band, die Erfolge, die Tracht. Der Sänger hat Spaß. Oft weiß er am Anfang eines Satzes offenbar noch nicht, wo er mit ihm am Ende hin will. So verharren angefangene Sätze in der Luft, werden durch neue ersetzt. Einige Aussagen bleiben dennoch hängen: „Natürlich sind wir am Anfang ein wenig belächelt worden“, sagt Rier, aber die Zeiten seien lange vorbei. „Mittlerweile trauen sich auch junge Leute zuzugeben, dass ihnen unsere Musik gefällt.“

Keine Karriere ohne Krisen

Doch Rier ist unzufrieden mit der Situation der Volksmusik. „In Deutschland schämt man sich oft, deutsche Lieder zu spielen“, sagt er. Er hat einen Rettungsvorschlag: Jeder Teilnehmer solle beim Eurovision Song Contest in seiner Heimatsprache singen müssen. „Für die Jury könnten die Texte ja übersetzt werden.“

„Jeder Teilnehmer solle beim Eurovision Song Contest in seiner Heimatsprache singen müssen.“Norbert Rier, Kastelruther Spatzen

Rier steht so ein Urteil zu. Er hat alles erreicht, was man mit einer Volksmusik-Band erreichen kann. Die Zeit des Belächelt-Werdens war vor mehr als 30 Jahren. Gegründet wurde die Band offiziell 1983 – in dem Jahr erschien die erste Platte „Viel Spaß und Freude“, und der Hit „Das Mädchen mit den erloschenen Augen“ brachte gleich die erste goldene Schallplatte. Allein 13 Echos sind Beleg für den Erfolg und die Beliebtheit.

Aber keine Karriere ohne Krisen. Die wohl größte persönliche musste die Band 1998 meistern, als am 6. März Karl-Heinz Gross, Bruder von Albin und damaliger Manager der Band, schwer verletzt in einem Magdeburger Industriegebiet gefunden wurde. Der damals 38-Jährige starb trotz einer Not-Operation. Trotz hunderter Hinweise und einer 20-Mann-starken Soko „Spatzen“ ist der Fall bis heute ungeklärt.

Die größte musikalische Krise hatte die Band 2012 zu überstehen. Der ehemalige Komponist Walter Widemair machte öffentlich, dass die Kastelruther Spatzen im Studio mit Profi-Musikern arbeiten – und nicht selbst spielen. Er nannte es einen Skandal und Schummelei, die Spatzen nannten es völlig normal und ihn einen „Spatzenjudas“. Geschadet hat ihnen der „größte Schunkel-Schwindel aller Zeiten“, wie ihn die Bild-Zeitung nannte, nachhaltig nicht.

Moderator mit Kondom-Witzen

Akt zwei, wieder im Zelt: Bevor die Kastelruther Spatzen loslegen dürfen, kommt mit Sepp Silberberger ein Moderator auf die Bühne, der den Namen nicht verdient hat. Mit krächzender Stimme erzählt er einen schlechten, sexistischen Witz nach dem anderen – zum Beispiel jenen von einem Mann, der in die Apotheke kommt, um Kondome zu kaufen. Gefragt nach seiner Größe ist er ahnungslos, der Verkäufer schickt ihn mit einem Brett mit verschieden großen Löchern zum Probieren ins Hinterzimmer. Die Pointe? Ewigkeiten später kommt er wieder und sagt: „Vergessen sie die Kondome, ich nehm das Brett.“ Grölende Männer, pikiert schauende Frauen. Jetzt ist Zeit für den Hauptakt des Abends.

Auf den wartet auch die Jugend. Allerdings draußen im separaten Partyzelt. Dort feiert die U20-Generation – mit viel Alkohol und tatsächlich einer Leinwand für die Live-Übertragung des Konzerts. Ein Schild warnt „An Jugendliche unter 18 Jahren wird kein Alkohol verabreicht“. Trotzdem wirken auch einige der ganz jungen Fans stark angetrunken.

Doch was macht das Phänomen dieser Gruppe aus? Viele Nicht-Spatzenfans werfen ihnen vor, musikalisch sei die Gruppe maximal Mittelmaß, den Texten fehle Tiefgang bis teils zur Einfallslosigkeit – und ohnehin hätten sie nur zwei Themenkomplexe im Repertoire: Liebe und Heimat.

„Die Lieder, die Texte, der Norbert“Das gefällt den Fans

Bei den Spatzen scheinen indes eben diese schlichten Heile-Welt-Texte zu einfachen Melodien seit Jahrzehnten das Erfolgsrezept zu sein. Nicht nur Millionen verkaufter Tonträger sind Beweis genug. An diesem Wochenende ist Kastelruth von fröhlichen Menschen belagert. In einer Straße stehen ein Dutzend Damen älteren Semesters, schwenken Fähnchen und begrüßen jeden Bus und jedes Auto. Aus Geschäften dudelt Spatzenmusik, jeder grüßt sich, viele kennen sich. Ein Familientreffen der Spatzenszene. Helene Fischer könnte neidisch werden.

Auch er staune, wieviel Geld die Leute ausgeben, sagt Rier. „Manche sparen das ganze Jahr, weil sie das Spatzenfest miterleben wollen.“ Und befragt man Besucher, was ihnen so gefalle, bekommt man fast mantra-artig die selbe Antwort: „die Lieder, die Texte, der Norbert“. Die sieben Spatzen singen von Heimat, Liebe und der Familie. Ihre Fans flüchten aus dem Alltag in eine heile Welt.

Ein Museum für den Fanwahnsinn

Und es gibt ein Spatzenmuseum: Wer ein wenig den Fanwahnsinn um die Sieben aus Tirol einatmen will, kommt daran nicht vorbei. Passenderweise führt der Weg zum Eingang durch den Fanshop, wo die Band alles verkauft, worauf sich die 19 Buchstaben drucken lassen: vom singenden Kugelschreiber bis zur Winterjacke. Die Spatzen sind auch eine gut geölte Merchandise-Maschine, Museum und der lokale Getränkelieferant am Ort sind zudem fest in Spatzenhand.

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Das Museum im Keller ist eine Ansammlung von Trophäen: ganze Schränke voll mit Pokalen, Wanduhren, Puppen, Plakaten und Medaillen, die Fans für ihre Idole angefertigt haben. Ins Auge sticht eine liebevoll gebastelte Hütte, in der sechs kleine Biergläser stehen. Links ragt ein goldenes Mikro ins Bild, von der Rückwand grinsen die sieben Volksmusiker.

Doch der Hype um die Kastelruther Spatzen ist für die Region Segen und Fluch zugleich. Raimund Zemmer war lange Präsident des Kastelruther Tourismusvereins. Er sagt: „Mit den Kastelruther Spatzen wird der Name Kastelruth in die Welt hinausgetragen.“ Doch was, wenn die Kastelruther Spatzen einmal die Tracht an den Nagel hängen? „Darüber ist bei uns schon oft diskutiert worden. Wir hoffen, dass viele zum Beispiel wegen unserer schönen Landschaft trotzdem weiter zu uns kommen.“

„Für uns wäre das Ideal, wenn es die Spatzen immer gäbe.“Raimund Zemmer, Ex-Präsident Tourismusverein Kastelruth

Zemmers Wunsch indes ist trotzdem ein einfacher: „Für uns wäre das Ideal, wenn es die Spatzen immer gäbe.“ Doch sein Masterplan, den er mit einem Augenzwinkern erklärt, die Bandmitglieder Stück für Stück durch jüngere auszutauschen, wird wohl nichts werden. Denn passen könnte ja als neuer Sänger zum Beispiel Alexander Rier, Sohn von Frontsänger Norbert, der momentan als Solokünstler recht erfolgreich unterwegs ist.

Kein Platz für den Sohn

Doch Rier sagt auf die Frage, ob ihn sein Sohn einmal beerben könnte: „Nein, bei uns nicht. Er macht das alleine ganz gut, aber ich hoffe, dass er meinen Hof weiterführt.“ Und auch eine Frau wird unter seiner Regentschaft wohl nie auf der Bühne stehen. „Nein. Das System, das wir haben, funktioniert sehr gut.“

Liebe Fans,vielen Dank für ein wunderschönes Spatzenfest 2015, und die vielen Glückwünsche zu Platz 1 in den deutschen...

Posted by Kastelruther Spatzen on Dienstag, 13. Oktober 2015

Akt drei. Das Konzert von Norbert Rier und Co. ist eine skurrile Erfahrung. Die Kastelruther Spatzen ziehen ihr Programm durch, doch sie sehen nicht so aus, als hätten sie Spaß dabei. Sie stehen auf ihren Plätzen, Norbert Rier umklammert sein Mikro, nur manchmal zeigt er mit dem Zeigefinger ins Publikum. Dabei ist das doch der Höhepunkt im Fankalender, das Heimatkonzert, der Auftritt vor jenen, die ihnen wie niemand sonst huldigt. Mehr als 30 000 werden am Ende des Wochenendes in dem gigantischen Zelt gewesen sein, jedem Vollblutmusiker sollte man bei so einem Heimspiel doch das Lächeln aus dem Gesicht meißeln müssen.

Ob sie noch so motiviert seien wie zu Beginn ihrer Karriere, wurde Trompeter Albin Gross am Morgen gefragt. „Nein, auch wenn man das ja sonst gerne sagt. Aber es macht schon noch Spaß, wenn so viele Leute kommen.“ Im Nachhinein klingt es wie eine Warnung. Und trotzdem feiern die Menschen ihren Norbert, singen jedes Lied, am Ende steht das Zelt doch noch Kopf. Vielleicht ist genau das das Phänomen der Kastelruther Spatzen.