Gesellschaft
Botho Strauß wird 75

Botho Strauß revolutionierte das Theater, verzauberte mit seinen Analysen und verstörte später mit seiner Kritik.

27.11.2019 | Stand 12.10.2023, 10:20 Uhr |
Helmut Hein

Botho Strauß entzieht sich meist den Anforderungen der medialen Öffentlichkeit. Foto: Oliver Mark Studio

Es gibt die zwei Karrieren des Botho Strauß; ein Bruch geht mitten durch sein Leben und Schreiben hindurch. Zunächst war er der, auf den alle sich einigen konnten: Als blutjunger Kritiker bei „Theater Heute“ (1967-1970), dann als Theaterrevolutionär, der mit seiner neu verstandenen Arbeit als Dramaturg zusammen mit dem Regisseur Peter Stein die Berliner „Schaubühne“ zum weltweit wichtigsten Theater machte, schließlich als Autor zeitkritischer Komödien, die so etwas wie intellektuellen Boulevard lieferten: bissig-hintergründig und voller präziser Beobachtungen unseres Umgangs miteinander und der Sprache(n), die wir dabei benutzen.

„Für manche wurde Botho Strauss geradezu zu einem Hass-Objekt.“Helmut Hein, Autor

Diese Theater-Zeit endete, nur scheinbar paradox, mit einem Prosa-Buch aus lauter blendenden Miniaturen, die unseren Beziehungs-Alltag, man könnte auch sagen, -Krieg zum Dauer-Thema machen. Beschreibung und Begriff intensivieren sich dabei wechselseitig. „Paare, Passanten“, das viele zu Beginn der 1980er Jahre geradezu demonstrativ mit sich herumtrugen, als sei das ein geheimes Erkennungszeichen, erinnerte an Adornos Nachkriegs-Kult-Buch „Minima Moralia“. Kein Wunder. Schließlich wurde Botho Strauß in der Gedanken- und Begriffswelt der Kritischen Theorie sozialisiert. Und dann doch: Denn „Paare, Passanten“ war, ohne dass es sofort bemerkt wurde, ein fulminanter Abschied vom Übervater Adorno, gipfelnd in der provozierenden Behauptung, man müsse sich von der Kritischen Theorie verabschieden, auch wenn man dadurch „auf Anhieb“ erst einmal deutlich dümmer werde.

Scharfsinniger Unruhestifter

Mit anderen Worten: Botho Strauß suchte für sich einen neuen Weg, verlor dabei einen Großteil seiner Leser und inszenierte seine zunehmende Einsamkeit weit weg von allen anderen in der ländlichen Uckermark, als sei sie mehr als nur eine private Entscheidung oder Vorliebe. Botho Strauß entzog sich den Anforderungen der medialen Öffentlichkeit – und wurde dadurch nur immer berühmter. Aber entzog er sich wirklich? Zwar war es so, dass Strauß das Ritual der Lesung aus dem jeweils neuesten Buch verweigerte, dass er keine Interviews gab und schon gar nicht im Fernsehen auftrat. Aber er wusste die Medien, wenn es darauf ankam, durchaus zu nutzen.

Anfänge:Literatur:Theater:
Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg an der Saale geborgen. Er studierte Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie. Von 1970 bis 1975 war er Dramaturg an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin.Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der Jean-Paul-Preis und 1989 der Georg-Büchner-Preis verliehen. Dieses Jahr erschien der Prosaband „Zu oft umsonst gelächelt“.Strauß’ Stücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen. Zuletzt uraufgeführt wurde im April 2009 im Bayerischen Staatsschauspiel München das Stück „Leichtes Spiel“. Botho Strauß lebt in der Uckermark.

So publizierte er ausgerechnet im „Spiegel“ und sorgte fast immer für kollektive Verstörung. Für Unruhe im Post-68er-Bildungsbürgertum sorgte, dass da ein (vermeintlich) linker Avantgardist auf dem langen Marsch nach (scheinbar) ganz rechts war – und dabei viele liebgewonnen Werte, Haltungen und Überzeugungen mutwillig zertrampelte oder mit blankem Hohn überzog. Als scharfsinniger Betrachter der Zeitläufe, vor allem in seinen frühen Stücken und Prosa-Miniaturen, war er zu Jedermanns Liebling aufgestiegen. Jetzt, wo er das unmissverständliche Resümee aus seinen Erfahrungen zog, wurde er für manche geradezu zu einem Hass-Objekt.

Der Weg hatte sich lange angedeutet. Aber viele meinten, er führe, wie einst in der Romantik, einfach nach innen; wohin sie ihm zwar nicht mehr folgen wollten, was sie aber noch nicht als skandalös empfanden. Vor allem, weil ja Botho Strauß der Seismograph blieb; einer, der künftige Entwicklungen rascher und auch visionärer spürte und analysierte als die meisten anderen. Vor allem die Auswirkungen technologischer Innovationen auf Körper und Psyche, aber auch auf die Gesellschaft haben ihn immer wieder beschäftigt. Dabei griff er auf Vorarbeiten von Schiller und Marx zurück, die bereits gezeigt hatten, dass die Entwicklung der Gesellschaft hohe Kosten für den Einzelnen haben kann.

Zwei Jahrzehnte vor der Installierung des Internets untersuchte er, was die permanente Verfügbarkeit aller Wissensbestände im Netz für die menschliche Vernunft bedeutet: „Das tatenlose, überinformierte Bewusstsein, das nicht mehr in der Lage ist, Wunsch, Idee, Erinnerung zu produzieren, erlebt stattdessen eine (sonst nur dem Wahnsinn bekannte) Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren.“ Die Maschine „weiß“ und „erinnert“ alles, der Einzelne aber büßt wertvolle, evolutionär über längere Zeiträume entstandene Kompetenzen ein, wird hilflos und infantil. Das provozierte, wurde aber als produktiv empfunden.

Den endgültigen Bruch mit Botho Strauß brachte sein „Anschwellender Bocksgesang“, den er im Winter 1993 im „Spiegel“ veröffentlichte. Bocksgesang? Das ist einfach nur die wörtliche Übersetzung von Tragödie. Es ist aber auch ein Beispiel für Botho Strauß’ neue Lust an der Mystifikation.

Ende der liberalen Gesellschaft

Man kann den Aufschrei verstehen, der diesen Text begleitete, wenn man etwa lesen muss: „Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.“ Da stockt einem erst einmal der Atem. Aber wenn man sich halbwegs erholt hat, kann man auch erkennen, dass Strauß’ Analysen oft hellsichtiger sind als die derjenigen, die vor allem sicher sein wollen, keinen Anstoß zu erregen. Verstörend war dieser „Bocksgesang“, weil er der liberalen Gesellschaft, in der ja auch er aufgewachsen war und der er alles Gute und Schlechte in seinem Leben verdankte, die Diagnose stellte, dass es mit ihr zu Ende gehe; dass der Untergang lang und schmerzhaft, aber unausweichlich sein werde. Folgerichtig inszeniert er sich in einem späten Essay 2015 als „Der letzte Deutsche“. Botho Strauß sagt von sich, er sei „ein in heiligen Resten wühlender Stadt-, Land- und Geiststreicher. Ein Obdachloser“, dem mit der Tradition sein Lebensraum abhandengekommen ist.

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