Serie
Grenzsteine auf dem Maingrund?

In Karlstein im Landkreis Aschaffenburg liegt der westlichste Punkt Bayerns – und zwar irgendwo in der Flussmitte am Grunde des Maines.

22.10.2012 | Stand 16.09.2023, 21:05 Uhr
Thomas Dietz

„Der westlichste Punkt Bayerns verläuft ungefähr in der Flussmitte“: Alois Kern (69) aus Karlstein am Main gehört zur Gemeinschaft der Feldgeschworenen. Er ist Bewahrer des alten „Siebener-Geheimnisses“. Fotos: Thomas Dietz

„Die Grenzsteine zu Hessen befinden sich auf dem Grund des Maines. Wenn Sie die sehen wollen, müssen Sie mit der Wasserwacht tauchen gehen.“ Ein beliebter Scherz. Alois Kern aus Karlstein am Main ist einer von den Feldgeschworenen – das sind jene Männer, deren Zunft seit mehr als 500 Jahren über korrekte Kennzeichnung und Einhaltung der Grundstücks- und Gemeindegrenzen wacht. Sie setzen die Grenz- und Gemarkungssteine und versehen sie mit verborgenen Echtheitszeichen. Darum nennt man sie auch die Träger des Siebener-Geheimnisses, die also jene Zeichen kennen, die den echten Grenzstein vom manipulierten unterscheiden. In Bayern gibt es etwa 20000 Feldgeschworene.

Der westlichste Punkt Bayerns verläuft ungefähr in der Flussmitte des Mains, und zwar im schönen Vorspessartland im Landkreis Aschaffenburg, im Ortsteil Großwelzheim, der zur Gemeinde Karlstein am Main gehört. Der Main ist hier 30 bis 35 Meter breit und am Horizont sieht man dramatische Wasserdampfwolken aufsteigen: sie gehören zum Steinkohle-Kraftwerk Staudinger in Großkrotzenburg auf der hessischen Seite.

Ein paar hundert Meter flussaufwärts liegt die Fähre, mit der man ins beschauliche Seligenstadt übersetzen kann. Obwohl so viele Mainfranken mit ihrer Mundart für Hessen gehalten werden und wegen der attraktiven Gehälter auch gerne dort arbeiten, ist man auf das heimatliche Bayern stolz. Man hört sogar: „Hessen zählt nicht.“ Seit 1816 ist man bei den Bayern.

Seligenstadt zeigt sich von der Schokoladenseite, wenn man so auf die Basilika hinüberschaut: „Selig sei die Stadt genannt. So rief einst Kaiser Karl. Als er seine Tochter fand – nach banger Seelenqual“, lautet ein berühmtes Gedicht. Alois Kern ergänzt: „Selig sei die Stadt genannt, wo ich meine Tochter Emma wiederfand.“

Der Pfannkuchengeschmack war’s

Der Sage nach soll ein gewisser Einhard, Berater und Biograf Karls des Großen, mit dessen Tochter Emma durchgebrannt sein und ein Gasthaus in Obermulinheim aufgemacht haben. Eines Tages betrat der Kaiser inkognito das Bistro, ließ sich Pfannkuchen servieren und erkannte am unvergleichlichen Geschmack, dass sie nur von seiner Tochter stammen konnten. Daraufhin tat er den berühmt gewordenen Ausspruch und prompt entstand daraus der Name Seligenstadt. Das Einhardhaus gibt es noch.

Auch Karlstein am Main verdankt seinen Namen dem großen Karl: er begab sich gerne in den Reichsforst Spessart, um dort zu jagen. Per Schiff fuhr er mit Gefolge über den Main und ging immer in Großwelzheim an Land, wo ihn die Bevölkerung winkend und hochrufend zu empfangen pflegte.

Bald hieß der Grenzstein an der Schiffsanlegestelle Karelstein oder „lapis caroli“, „Stein des Karl“. Als am 1. Juli 1975 im Zuge der bayerischen Gebietsreform die Gemeinden Großwelzheim und Dettingen zusammengelegt wurden, entschied man sich für den neuen Namen Karlstein; der Vorschlag Limeshain fiel durch. Eine Nachbildung des Karlsteins aus dem 16. Jahrhundert steht heute im Treppenhaus des Rathauses: „Carlenstein ist ein rodter Stein ahn der Lantstraßen stehet ungefehr Knie Hoch auß der erdten“.

Lange Zeit war die Gegend vom Braunkohletagebau gezeichnet, der Anfang des 20. Jahrhunderts im großen Stil mit dem Bergwerk „Gewerkschaft Gustav“ begonnen wurde. Die Flöze waren zehn bis 20 Meter (!) mächtig, die Kohle von bester Qualität. 1925 wurde man in 36 Metern Tiefe des Grundwassers nicht mehr mächtig, außerdem brach wertvolles Ackerland vom Grubenrand ab und rutschte in die Tiefe. „Gustav“ musste nach einem Wassereinbruch fluchtartig aufgegeben werden: „Am Grund des heutigen Gustavsees steht immer noch ein kompletter Zug mit Lokomotive und Loren“, weiß Alois Kern. „Der Gustavsee ist heute ein ruhiges, eingezäuntes Naturreservat mit glasklarem, sehr kaltem Wasser und großem Fischreichtum.“ Hier gibt es Hechte, Schleie, Karpfen und Rotaugen, hier leben Fischadler und Kormorane.

Zugänglich ist aber der Weißsee, einst ein Kiesbaggersee mit einem der größten Campingplatze Deutschlands – mitten im Mischwald und über die Bundesstraße 8 leicht zu erreichen.

Blaue Protonen, roter Atomkern

In dieser traditionellen Kraftwerks-Gegend entstand auf Großwelzheimer Gebiet das erste Atomkraftwerk der Bundesrepublik, das am 17. Juni 1961 ans Netz ging. Man nannte es aus PR-Gründen nach dem Nachbarort Kahl, weil es sich Kahl leichter aussprechen ließ als Großwelzheim. Nach 25 Jahren Betrieb wurde es 1985 stillgelegt und bis 2010 abgerissen. Geblieben ist eigentlich nur das Atomsymbol im Wappen von Karlstein: drei blaue Protonenbahnen, die einen roten Atomkern umschwirren.