Bildung
Neumarkter Mittelschule geht neue Wege

An der Weinberger Straße starten Lehrer einen individualisierten Unterricht. Dabei lernen sie von Kollegen aus Bremerhaven.

30.09.2019 | Stand 16.09.2023, 5:34 Uhr

Individuelle Unterstützung für die Schüler – das ist das Ziel einer neuen Struktur, die die Mittelschule an der Weinberger Straße aufbaut. Themenfoto: Andreas Arnold

Behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichten? „Das funktioniert nicht“, sagt Petra Zeitler. Die Voraussetzungen passen im bayerischen Schulsystem nicht, um den Kindern wirklich gerecht zu werden, erklärt die Neumarkter Rektorin. Doch in der Mittelschule an der Weinberger Straße bleibt man nicht bei einem Nein zur Inklusion. Lehrer, Schulleitung, Eltern und Kinder arbeiten gemeinsam an einer Lösung – zusammen mit einer Oberschule aus Bremerhaven. Der Vorteil: Von den neuen Strukturen profitieren alle Schüler und später vielleicht auch andere Schulen.

Bildung ist Ländersache, und so setzt auch jedes Land die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen anders um. Fakt ist aber, dass alle Schulen in Deutschland vor derselben Herausforderung stehen: Wie kann ich Kindern individuell gerecht werden, wenn sie eine ganz unterschiedliche Unterstützung beim Lernen brauchen? Und das bei einer Lehrkraft pro Klasse? Und das bei einer Lehrkraft, die nicht als Sonderpädagoge, sondern als Mittelschullehrer ausgebildet worden ist, ergänzt Petra Zeitler. „Die Kinder können doch nichts dafür.“

Drei Jahrgänge in einer Klasse

In Bremerhaven, das zum Land Bremen gehört, stand Direktor Dr. Joachim Wolf 2007 mit seiner Paula-Modersohn-Schule vor derselben Aufgabe. An der Oberschule werden alle Kinder zusammen unterrichtet – egal, ob sie ein körperliches oder geistiges Handicap haben, und egal, welche Leistung sie bringen können. Die Kinder werden jahrgangsübergreifend unterrichtet: die Klassen 5, 6 und 7 zusammen sowie die Klassen 8, 9 und 10. Wer möchte, kann anschließend das Abitur ablegen. In Bremen gibt es nur zwei Schularten: Gymnasien und Oberschulen.

Kein Lehrplan – dafür Lernmodule

Um diesen bildungstechnischen Spagat zu schaffen, hat Dr. Wolff mit seinem Lehrerkollegium ein eigenes Schulsystem aufgebaut. Es gibt keinen festen Lehrplan für jede Klassenstufe, sondern Lernmodule für jedes Fach. Und es gibt Lernziele. Mit jedem Schüler wird ein Vertrag geschlossen, der diese Lernziele und eine Anzahl von Tests beinhaltet. Wann die Schüler diese Tests schreiben, legen sie selbst fest. Dreimal im Jahr müssen sie über ihre Entwicklung Rechenschaft ablegen.

„Normalerweise wird ein Kind geprüft, ob es schulreif ist. Wir versuchen, eine Schule zu sein, die kinderreif ist.“Dr. Joachim Wolff, Direktor

Möglich wurde dieses individuelle Lernkonzept, indem die Lehrkräfte über die Jahre hinweg Unterrichtsmaterialien für die Leistungsmodule angefertigt haben. Ein Baukasten, der den unterschiedlichen Lernfortschritten der Kinder Rechnung trägt. „Wir sind in der Lage, 22 Kindern 22 unterschiedliche Aufgaben zu stellen“, sagt Dr. Wolff.

Politik verzichtet auf Bildungsreformen

Voraussetzung dafür war der Bremer „Schulfrieden“. Das Land Bremen hat sich verpflichtet, von 2008 bis 2018 keine Bildungsreformen umzusetzen. Inzwischen wurde diese Frist bis 2028 verlängert. So haben die Schulen Zeit, notwendige Veränderungen aus sich heraus zu entwickeln. „Wir versuchen, die Schule vom Kopf auf die Füße zu stellen“, sagt Dr. Wolff. Üblicherweise werde geprüft, ob ein Kind schulreif sei. „Wir versuchen, eine Schule zu sein, die kinderreif ist.“ So gelinge es, 540 Kinder zu unterrichten, von denen etwa 15 Prozent eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben.

Müsste Sarah Ihlo zwischen der Paula-Modersohn-Schule und der Neumarkter Mittelschule wählen, wäre ihre Entscheidung schnell getroffen: „Die Paula“, sagt sie nach dem eintägigen Besuch in der Weinberger Straße. Zunächst sei sie skeptisch gewesen, mit drei Jahrgängen zusammen in einer Klasse zu sein. „Das hat mir aber echt geholfen. Man lernt von jedem etwas Neues“, sagt die 14-Jährige. „Ich habe auch richtig gute Noten.“ Wer aufgrund seiner Leistungen im „Talentpool“ aufgenommen wird, kann schon ein Jahr früher in den Zug wechseln, der Abitur macht.

Sozialpädagogen unterstützen alle Schüler

Bianca Rüssel hat sich ganz bewusst damals für die Oberschule entschieden. Ihre heute 15-jährige Tochter habe keine Leistungsdefizite gehabt, aber immer mal wieder einen Hänger. Die Oberschule habe ihr Zeit gegeben. Jetzt wechselt die 15-Jährige ans Gymnasium. Ihren siebenjährigen Sohn möchte die Mutter aus Bremerhaven nach den guten Erfahrungen ebenfalls an die Paula schicken. Und die Inklusion? „Das Schöne ist, dass die Schüler gar nicht merken, dass die Kinder anders sind.“ Und: „Die Sozialpädagogen unterstützen ja nicht nur die Kinder mit einer Behinderung, sondern auch die anderen. Davon profitiert jeder.“

Auch ohne Inklusion sind die Begabungen der Kinder in einer Klasse sehr heterogen. „Die Leistungen gehen sehr weit auseinander“, sagt Konrektor Philipp Schmitz. Doch im Gegensatz zu Bremerhaven unterrichten in Neumarkt Sonderschullehrer und Fachlehrer nicht gemeinsam an der Schule. Sebastian Hettich vom Sonderpädagogischen Förderzentrum (SFZ) gehört dem Sonderpädagogischen Mobilen Dienst an und verbringt gerade mal eine Stunde pro Woche an der Weinberger Straße. „Das reicht nicht. Und es ist für alle unbefriedigend. Aber es gäbe in Bayern auch nicht mehr Sonderschullehrer.“

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An der Weinberger Straße lässt man sich von den gegebenen Strukturen aber nicht entmutigen. Im Gegenteil: Man will von den Partnern aus dem Norden lernen und die Strukturen verändern. Seit diesem Schuljahr wird in der 5. und 6. Klasse in drei Mathematikstunden modularisierter Unterricht angeboten. Das heißt: Zwei Lehrer unterrichten drei verschiedene Leistungsniveaus. Das Konzept dazu haben die Teams selbst erarbeitet. In einem Test vor der Probe wird der Leistungsstand jedes Kindes abgefragt. Noch ist es zu früh für Ergebnisse. Aber Rektorin Petra Zeitler sagt: „Ich bin überzeugt, dass es unseren Kindern gut tun wird“. Das Schulamt hat die zusätzlichen Stunden gewährt und unterstützt das Experiment.

„Schulentwicklung muss von unten stattfinden“, unterstreicht Konrektor Schmitz. „Wir wollen nicht gegen das System arbeiten, sondern es verändern.“ Weil ihrer Erfahrung nach Inklusion im jetzigen System nicht gelingt, wollen sie eine Alternative aufbauen. Eine Alternative, die allen Kindern zugute kommt. „Unser Schulsystem selektiert stark. Daraus entsteht aber auch ein Anspruch der Schüler auf Förderung. Sonst sortiert man die Kinder einfach nur aus.“

Ursprung:Austausch: Unterstützung:
Aufgrund verschiedener Auszeichnungen war die Mittelschule an der Weinberger Straße Teil des Netzwerks „Starke Schule“ der Hertie-Stiftung. Dieses existiert nicht mehr. Acht Schulen haben sich jedoch zusammengetan, um weiter gemeinsam zu lernen. Daraus ist die „Initiative starke Schule“ entstanden, der die Neumarkter sowie die Paula-Modersohn-Schule in Bremerhaven angehören.Bei gegenseitigen Besuchen lernen Neumarkter und Bremerhavener voneinander. Den Delegationen gehören Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern und Schüler an. Auf Augenhöhe werden offen Vor- und Nachteile diskutiert. Dem Besuch der Gäste aus dem Norden erfolgt ein Gegenbesuch in Bremerhaven.Das Staatliche Schulamt hat der Mittelschule zusätzliche Stunden gewährt, um eine Modularisierung des Unterrichts anzustoßen. Bei seinem Besuch und der Begrüßung der Gäste hat auch Oberbürgermeister Thomas Thumann seine Hilfe zugesagt.

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