Frankreich
Per Du mit dem Moloch am Mittelmeer

Schlendert man mit einem Greeter durch Marseille, entdeckt man die Seele einer Stadt, der zunächst jede Lieblichkeit fehlt.

08.11.2015 | Stand 16.09.2023, 6:54 Uhr
Helge Sobik

Nicht nur Vorzeige-Viertel: Blick vom Cours Julien auf die Altstadt von Marseille Fotos: Sobik

Es ist keine Stadt, die einen auf Anhieb willkommen heißt. Keine, die sofort eine Wärme ausstrahlt, kaum dass man zwischen ihren Häuserschluchten unterwegs ist. Keine, die einen anlacht, umarmt und die man ab sofort selber nicht mehr loslassen will. Mediterran ist sie nur am alten Hafen, französisch überall ein bisschen, afrikanisch und arabisch vielerorts. Marseille ist herb und wirkt abweisend, weil diese Stadt so unentschlossen scheint – irgendwie zwischen allen Stühlen. Mit Fassaden wie an den Champs-Elysées in Paris, von denen mancher noch immer frische Farbe fehlt. Mit Märkten zwischen jenen nackten Prachtbauten, deren Waren auf dem Fußweg oder der Straße ausgebreitet sind wie in Afrika.

Marseille fehlt jede Lieblichkeit. Marseille ist geschäftig, laut, temporeich. Marseille ist kriminell – nicht mehr als anderswo, was Taschendiebstahl und Rempeleien angeht, aber sehr, was das organisierte Verbrechen betrifft. Eine Zeit lang war es ruhiger geworden, doch dann erschossen sich die Gangster wieder gegenseitig von fahrenden Motorrädern aus und konterkarierten die ersten Schlagzeilen vom neuen, vom friedlichen Marseille, aus dem alles Böse rechtzeitig zum Jahr als Europäische Kulturhaupstadt herausrenoviert sein sollte. Das war 2013. Es ist Geschichte. Und Marseille ist wie eh und je. Nur mit ein bisschen mehr Farbe.

Lächeln für die Stadt

Da ist es schön, dass es Leute wie Ann-Claude gibt, die keinen Nachnamen hat, Ende dreißig ist und für diese Stadt zusammen mit ein paar Dutzend Gleichgesinnten das Lächeln übernommen hat. Sie sind Leute, die Fremde an diesen Moloch heranführen und den weichen Kern hinter der rauen Schale zeigen. Es sind Menschen, die die Berührungsängste mit dieser Stadt nehmen wollen. Nirgendwo passt ihre Idee besser hin als hierher: Sie nennen sich „Marseille Greeter“, weil die französische Version jener „Begrüßer“ viel zu kompliziert auszusprechen wäre und weil es das, was sie tun, schon in anderen Städten gibt und all das vor zwei Jahrzehnten in New York seinen Anfang nahm.

Ihre selbst gestellte Aufgabe ist es, Fremden auf zweistündigen Spaziergängen durch ihr Lieblingsviertel ihre jeweilige Heimatstadt nahezubringen. Dabei gilt: Die Führungen kosten nichts, und die Greeter arbeiten nicht nur ehrenamtlich, sie müssen für ihr Tun sogar eine – wenn auch geringe – Jahresgebühr an ihre hiesige Dachorganisation „Marseille Provence Greeter“ zahlen. Trinkgelder anzunehmen ist verpönt, allenfalls Spenden für die Organisation sind okay.

Sechzig Freiwillige aus den unterschiedlichsten Berufen sind dabei, führen ganz nach Wahl durch die hauptsächlich von Nord- und Westafrikanern bewohnten Banlieus, die Problemvororte mit ihren hässlichen Hochhäusern. Oder durchs Zentrum, durch das ehemalige Schmugglerviertel Panier am alten Hafen oder durch den Szene-Stadtteil mit dem Cours Julien in der Mitte. Je nachdem, wo sie selber zuhause sind – oder sich besonders zuhause fühlen. Und wo sie führen, dort lächeln sie. Denn wer dabei ist, macht diese Aufgabe mit Begeisterung und das mindestens ein-, im Schnitt zweimal im Monat.

Jede Führung wird erst für denjenigen ins Leben gerufen, der anfragt. Er kann mitbringen, wen er will, sofern er es seinen Greeter vorher wissen lässt. Aber die Greeter-Organisation selber verschiebt keine weiteren Gäste in seine Gruppe. Manchmal führt Ann-Claude deshalb Einzelpersonen, manchmal Paare oder Familien, ab und zu kleine Gruppen aus Freunden, die gemeinsam angefragt haben.

Anleitung zum Hinschauen

Und wenn sie zum Zug kommt, dann geht es immer ins Panier und zum Cours Julien – weil sie zeigen will, wie lebendig diese Stadt ist. Noch vor zehn Jahren galt das Panier als Ecke, die man meiden sollte: zu viele Ganoven, viel zu viel Kleinkriminalität, viele Schmuggler allenthalben in den kleinen, oft engen Gassen oberhalb des alten Hafens. Inzwischen hat nicht nur die Stadt viel getan, die Lebensqualität in dem Viertel zu verbessern. Vieles geschah auch aus Eigeninitiative der Bewohner. Das Panier hat sein Gesicht gewandelt, und inzwischen haben dort etliche kleine Geschäfte neu aufgemacht, originelle Boutiquen, schräge Läden, sogar Pensionen und Cafés. „Der Wandel hat nicht nur Vorteile,“ erzählt Ann-Claude: „Die Mieten, die nur knapp über Null lagen, sind inzwischen gewaltig gestiegen. Und Menschen, die hier ihr halbes Leben verbracht haben, sind weggezogen, andere eingezogen.“ Und auch Spekulanten haben nach dem Viertel gegriffen. Gerade erst ist am Rande des Panier in einem ehemaligen Krankenhaus ein Luxushotel entstanden.

Warum Ann-Claude solche Führungen als Greeter macht? Sie lacht, fährt sich mit der rechten Hand durch die dunklen Locken: „Weil ich mir Jahreszahlen nicht merken kann und deshalb für herkömmliche Führungen gänzlich ungeeignet bin. Ich habe aber eine Erinnerung für Gefühle. Und hier zeige ich das Gefühl meines Viertels. Das liegt mir, daran habe ich Freude.“ Sie umarmt kurz die Kellnerin ihres Lieblingscafés, winkt dem Postboten zu, läuft kurz in den kleinen Laden an der Straßenecke, um der Verkäuferin „Hallo“ zu sagen, winkt ihre Gruppe zu sich, stellt die Besucher vor.

Was alle dabei spüren: dass dieses schroffe Marseille Herz haben muss. Weil die Menschen es haben. Und zwei Stunden später fühlt sich diese Stadt ganz anders an. Plötzlich ist eine düstere Straße nicht mehr dunkel, sondern Heimat der Anwohner. Enorm laute Musik ist nicht mehr etwas, worum man einen Bogen macht, weil man nicht weiß, wie die Menschen drauf sind, die so wenig Rücksicht auf die Nachbarn nehmen. Sie ist plötzlich der Lebensrhythmus dieser Stadt. Und auch ein afrikanischer Markt ist nichts seltsam Fremdes in Südfrankreich mehr, sondern gehört plötzlich hierher. Die herbe, abweisende Großstadt hat eine Seele bekommen. Im Vorbeigehen. Weil jemand zum Hinschauen angeleitet und das mit Herzblut getan hat.