Dadaismus
Wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt

Jens Rachuts „Schneckengott“ bricht mit allen Konventionen.

27.09.2018 | Stand 16.09.2023, 5:55 Uhr
Peter Geiger

Ur-Punk Jens Rachut (r.) und seine Mitstreiter der Theatergruppe der „Hamburger Schule“ Foto: Geiger

. In den vor Optimismus berstenden 1990er Jahren, da setzten die „Lassie Singers“ dem Zeitgeist eiskugelgroße Portionen Melancholie entgegen. Und behaupteten nicht nur, dass Liebe durchweg überbewertet sei. Sondern sie stimmten auch ein Hoheslied auf Hamburg an. „Alte Schatzstadt“ nannten sie in „Rumfahren“ die von ihnen gefeierte Elbmetropole – und reimten „Hafen“ darauf, dass hier die „Schiffe und die Fische schlafen“.

Solche Songlyrik ging damals auch denjenigen zu Herzen, die sich als Chef-Ironiker begriffen. Zu dieser Zeit nährte sich die Stadt als kreatives Zentrum der Gegenkultur vom Geist des Punks. Und veredelte mit Bands wie „Blumfeld“, den „Goldenen Zitronen“ oder den „Sternen“ brachiale Gesten zu einem Klangkonglomerat, das „Hamburger Schule“ genannt wurde. So wurden Beziehungsfäden gesponnen in Richtung Disco, Funk und Elektronik. Vor diesem Hintergrund muss betrachtet werden, was Ur-Punk Jens Rachut und seine drei Mitstreiter, der Sterne-Bassist Thomas Wenzel, die Schauspielerin Susanne Jansen und Drummer Pencil Quincy da auf der Bühne im Ostentorkino unter dem Titel „Schneckengott“ performen. Rachut – gestandener Mittsechziger mittlerweile – zählt mit Bands wie „Angeschissen“, „Blumen am Arsch der Hölle“ oder „Dackelblut“ zu den Schlüsselfiguren der Hamburger Punkszene. Ein Exzentriker der Extraklasse, zeitlebens ausgestattet mit einem eigenwilligen Gespür für Songtexte, die sich als Antithese zu allem Etablierten begriffen. So rutschte er schließlich, im Windschatten von Schorsch Kamerun, dem Sänger und Chefdenker der „Goldenen Zitronen“, in die Kunstwelt hinein. Weshalb „Schneckengott“, das Live-Hörspiel, das jetzt im Ostentor Station machte, seine Premiere „auf Kampnagel“ (wie die Einheimischen zu ihrem alternativen Kulturzentrum sagen) zu erleben war – und sich dort offenkundig zum Publikumsrenner entwickelte. Regensburg dagegen hält sich vornehm zurück, was Ansturm anbelangt – rund 30 Besucher haben Platz genommen auf den Kinostühlen. Das Hauptthema dieser intendiert irrlichternden Inszenierung kreist um die Frage, was denn wäre, wenn der Mensch als Schnecke wiedergeboren würde. Und die Welt als schleimiges Wesen erführe, ertastete und im Schneckentempo in seinen Besitz nähme. Dieses ebenso alptraumhafte wie kafkaeske, rund eineinviertel Stunden in Anspruch nehmende Szenario provoziert immer dann Beifall, wenn Musik gespielt wird und die Akteure singen. „Merkt Euch: Selbstmord rettet Euch nicht vor der Wiedergeburt als Schnecke!“ Auf dem Heimweg schleicht sich ein alter „Sterne“-Hit ins Rezensentenhirn: „Wenn Dir St. Pauli auf den Geist fällt.“ Tja. Hamburg halt.