Unterwegs am Neusiedler See
Leben im Schilfgürtel

17.02.2024 | Stand 17.02.2024, 5:00 Uhr

Noch ein paar Millimeter betrug die Eisschicht, mit der der Neusiedler See Mitte Januar überzogen war. Das führte dazu, dass der See eine selten glatte Oberfläche aufweist, auf der sich die Wolken spiegeln. Normalerweise ist das Wasser wegen des vielen Winds in der Region stark in Bewegung.

Am Neusiedler See lässt sich Österreich von einer ganz anderen Seite entdecken. Einer, die zwischen Schilfgürteln, Salzlacken und Weinbergen einen seltenen Lebensraum für allerlei Tier- und Pflanzenarten bietet.

Es ist anders hier. Das Wasser in den tiefblauen Salzlacken glänzt in der Januarsonne. Die Oberfläche ist von den Sturmböen aufgeraut, die einem immer wieder eine salzige Brise ins Gesicht wehen. Keine saftig grünen Wiesen, keine hohen Berge, stattdessen flache Steppe in sattem Gelb. Nur die Ausläufer der Alpen in Form des Leithagebirges erheben sich auf der Westseite des Sees. Wobei die Bezeichnung Gebirge bei der 484 Meter hohen Erhebung zumindest bei dem ein oder anderen Österreicher Skepsis hervorrufen dürfte.

Am Neusiedler See lässt sich ein anderes Österreich entdecken. Er ist der westlichste Steppensee, einer Serie, die sich über Eurasien bis China zieht. Dabei schließt er direkt an die Ausläufer der Alpen an und liegt in der subalpinen Übergangszone zur Pannonischen Tiefebene. Die Region, die direkt an Ungarn grenzt, besticht durch Wiesen, einen mehrere Kilometer breiten Schilfgürtel, weite Ebenen, Wasserbüffel, Wildpferde und jede Menge Wein. Diese Symbiose zeichnet das ganze Burgenland aus, doch am stärksten wirken die Komponenten im Nationalpark Neusiedler See-Seenwinkel zusammen.

Wie eine Safari in Südafrika

Wer einen Einblick in das Naturparadies bekommen möchte, ist bei Lukas Vendler richtig, der für die Öffentlichkeitsarbeit des Parks zuständig ist. Ein Streifzug mit ihm und seinem Fernglas fühlt sich an wie eine Safari in Südafrika. Nur ein wenig kälter ist es – zumindest im Winter. Durch seinen Feldstecher lässt sich ein Blick auf Kaiseradler, Raubwürger, Kornweihen oder die zwölf scheuen Przewalski-Pferde erhaschen. Bei ihnen handelt es sich um Vertreter der letzten noch lebenden Wildpferd-Rasse.

Im Nationalpark wird nicht nur die seltene Art erhalten, die Tiere werden zwischen Seedamm und Schilfgürtel außerdem als „Landschaftspfleger“ eingesetzt, verhindern durch ihr Weiden, dass sich das Schilf ausbreitet und tragen dazu bei, den artenreichen Lebensraum zu erhalten. Eine ähnliche Funktion haben die rund 20 weißen Esel, die 200 Graurinder und die 60 Wasserbüffel, die gleich nebenan in jeweils separaten Bereichen gehalten werden. Dass der Nationalpark Neusiedler See-Seenwinkel bewusst gemäht und bewirtschaftet wird, ist eine Besonderheit des Parks, die unter anderem dazu beiträgt, dass das Gebiet ein Eldorado für Vogelbeobachter ist. „Über 370 Vogelarten wurden hier schon gesichtet“, sagt Vendler. Gerade bricht eine neue Saison für die Vogelbeobachter an, bei der es schon zu Beginn viel zu sehen gibt. „Der Winter wird massiv unterschätzt“, findet der Parksprecher.

Eine weitere Besonderheit sind die Salzlacken, die den Charakter des Seewinkels mitprägen. Die kleinen Seen, Lacken genannt, sind keinen Meter tief und trocknen in den Sommermonaten immer öfter aus und lassen eine weiße Salzkruste zurück. Die Bewohner freut es daher umso mehr, dass die üppigen Regenfälle in den vergangenen Monaten die Lacken – und den Neusiedler See – gut gefüllt haben und jetzt wieder in der Sonne glänzen. Warum die Seen salzhaltiges Wasser führen, dafür gibt es mehrere Erklärungsansätze. Es sind wohl die besonderen Klimaverhältnisse, die diese Phänomene verursachen – und ein weiterer Grund dafür sind, warum in der Region seltene Tier- und Pflanzenarten heimisch sind. „Diese Sandlebensräume sind selten für Mitteleuropa“, erklärt Vendler.

„Trotz der Trennung war viel möglich“

Die Besonderheit der Region haben die Bewohner dies- und jenseits der Landesgrenze schon vor Jahrzehnten erkannt. „In den 80er Jahren gab es erste Überlegungen, einen Nationalpark zu gründen“, erzählt Alois Lang, langjähriger stellvertretender Direktor des Nationalparks und einer, der von Anfang an mit dabei war. Was die Gründung des Parks erschwerte, war der Eiserne Vorhang, der genau an der Grenze des Burgenlands verlief. „Es war aber trotz der Trennung viel möglich“, sagt Lang. Anlass, die Überlegungen in die Tat umzusetzen war die Planung für die erste Expo-Weltausstellung eines kommunistischen und nicht kommunistischen Landes. Mehrere Arbeitsgruppen waren schon gegründet, darunter eine zum Nationalparkvorhaben. Aus der Expo wurde schließlich nichts, auch weil man sich bei der Finanzierung nicht einig wurde. Die Idee des gemeinsamen Nationalparks aber war schon so weit gediehen, dass sie umgesetzt wurde, nachdem der Eiserne Vorhang 1989 fiel. 1991 legte Ungarn mit seinem Teil los, drei Jahre später folgte Österreich. Warum es auf der österreichischen Seite länger dauerte? In Ungarn war aller Grund Staatsbesitz, was die Umsetzung einfach machte, während auf österreichischer Seite die Flächen aufwendig von Privatpersonen gepachtet werden mussten. Heute liegen zwei Drittel des Nationalparks auf ungarischer Seite, ein Drittel ist österreichisch. Letzteres umfasst knapp 1000 Hektar. Heuer, zum 30. Jubiläum des österreichischen Teils, wird der Park noch ein bisschen erweitert, es kommen voraussichtlich 150 Hektar dazu.

Die salzhaltigen Böden, kombiniert mit den vielen Sonnenstunden sowie heißen und trockenen Sommern und schneearmen Wintern machen das Burgenland auch zu einer besonders ertragreichen Weinregion. Mit über 700 Hektar liegt rund um den Neusiedler See das größte Weinbaugebiet des Burgenlands und zugleich eins, das viele findige Winzer hervorgebracht hat, ein jeder mit einem etwas anderen Profil. Heraus sticht beispielsweise jenes von Hans Tschida, der sich auf Süßwein spezialisiert hat und in dieser Nische behauptet. Schon mehrfach hat er es zum „Sweetwine Maker“ gebracht. „Die größte Auszeichnung, die man erreichen kann“, erklärt der Winzer, der gerade die nächste Charge fertig macht und zur Blindverkostung nach London schickt, um die Auszeichnung ein zehntes Mal zu ergattern. Darunter wird auch eine Flasche seines Schilfweins sein, dessen Trauben er zwei Monate auf einer Schilfmatte trocknen lässt.

Womit wir wieder beim Schilf wären, das sich durch die Geschichte zieht wie der Schilfgürtel um den Neusiedler See. Nicht nur die Tiere des Nationalparks bewirtschaften den Schilfgürtel, auch die Schilfschneider tun das. Einer von ihnen ist Dr. Jacobus van Hoorne. Der 37-Jährige leitet einen von nur noch fünf Schilfschneidebetrieben rund um den See und ist der einzige, der auch Schilfdachdecker ist. Er spricht vom zweitgrößten zusammenhängenden Schilfgebiet Europas, das rund um den Neusiedler See besteht. Von Mitte November bis Mitte März schneidet er mit zwei Angestellten und dem Papa, der noch im Familienbetrieb mitarbeitet, das Schilf und verkauft es überwiegend ins Ausland.

Vom Cern zum See

Im Sommer decken sie damit Dächer – in erster Linie von Museen, besonderen Architektur-Projekten beziehungsweise bessern bestehende aus. Wobei die Zahl der neu gedeckten Dächer niedrig ist. Fünf Häuser rund um den See werden jährlich mit einem solchen Dach ausgestattet. „Das Material galt als eins für die armen Leute“, erklärt er. Langsam finde aber ein Umdenken statt, wobei der Brandschutz bei dieser Entwicklung noch nicht so ganz mitspielt. Wer ein Schilfdach auf seinem Haus möchte, muss viele Auflagen erfüllen. Van Hoorne führt daher Brandschutzversuche durch, um die Hürden zu verringern.

Schilfdächer gibt es nicht nur rund um den Neusiedler See. Auch in den Niederlanden, woher von Hoornes Familie stammt, sind sie und damit der Beruf des Schilfschneiders und -dachdeckers verbreitet. Van Hoornes Vater kam in den 1970er Jahren nach Österreich, denn schon damals habe es am Neusiedler See zu wenig Schilfdachdecker gegeben. Er sei hängen geblieben und habe die Familie nachgeholt.

Dass Jacobus van Hoorne in das Geschäft einsteigen würde, war lange nicht absehbar. Er studierte technische Physik und bekam eine Anstellung im renommierten Schweizer Forschungszentrum Cern. Vor sechs Jahren allerdings tauschte er Schreibtisch gegen Natur, Freiheit, Selbstständigkeit und stieg ins Familienunternehmen ein. Er habe einen Beruf gewählt, den er bei all der Klimadiskussion, ohne schlechten Gewissens ausführen könne und das an einem Ort, der einzigartig ist in Österreich, ja auf der ganzen Welt, sagt er.


Redakteurin Johanna Richter recherchiert auf Einladung von Burgenland Tourismus rund um den Neusiedler See.