Chamer in Russland
Alte Heimat mit neuen Augen

Der Chamer Fotograf Chris Bierl und seine Frau Svetlana waren mit „A One Storied Country“ auf fotografischer Spurensuche.

18.11.2021 | Stand 15.09.2023, 23:14 Uhr
Diana Binder
Der knapp 400 Meter tiefe Tagebau der Magnesit-Mine im russischen Bergbauort Satka. −Foto: Chris Bierl

Saurer Regen, radioaktives Ödland und beschwerliche Lebensbedingungen: Karabasch wurde in den 90er-Jahren von der Unesco zum schmutzigsten Ort der Erde erklärt. Eine Kupferhütte dominiert die kleine Stadt in Zentralrussland, die einst zwar Arbeit gebracht, die Natur der Region dafür aber komplett ruiniert hat. Trotzdem leben hier Menschen. Menschen, die geblieben sind, ohne Perspektive, und die hier Fremden mit fast überraschender Herzlichkeit begegnen. Die Unnahbarkeit der Russen ist nur eines von vielen Klischees, mit denen Chris und Svetlana Bierl aufräumen möchten.

Der Fotograf und Künstler, geboren in Cham, hat mit seiner Frau über diese Region und ihre Menschen ein besonderes Porträt geschaffen. „A One Storied Country“ lautet der Titel des Fotobuchs, das den Betrachter mitnimmt auf eine Reise, die viele Fragen beantwortet – und einige aufwirft.

Russland war für Chris Bierl lange Zeit nur eine riesige Landmasse, die man höchstens auf dem Weg nach Asien mit dem Flugzeug überquerte. Wie es in diesem Land wirklich aussieht, was die Menschen dort bewegt und wie sie leben, das wusste der freischaffende Künstler, der seit vielen Jahren in Berlin lebt, nicht genau. „Ich bin hier in Cham direkt an der tschechischen Grenze aufgewachsen, habe den Fall des Eisernen Vorhanges hautnah miterlebt. Aber ich muss gestehen, dass mir lange Zeit der Zugang zum Osten fehlte“, blickt Bierl zurück.

Nach der Ankunft absolvierte sie an der Humboldt-Universität das Studium der Kulturwissenschaften, setzte dieses mit Schwerpunkt auf Osteuropa an der Uni Potsdam fort und baute sich ein neues Leben auf. „Das begann 2014, als die Krim annektiert wurde. Ich hatte es nicht leicht, als Russin in Deutschland anzukommen, aber zurückzugehen war keine Option.“

Chris Bierl hat nach dem Abitur am Joseph-von-Fraunhofer-Gymnasium in München studiert, zuerst Architektur und Informatik, danach Fotografie. Im Anschluss postgraduierte er als Meisterschüler an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und erhielt mehrere Stipendien und Auszeichnungen für nationale und internationale Projekte, darunter in Japan, Südfrankreich oder in der Mongolei. Bei seiner Arbeit waren ihm schon immer zwei Dinge besonders wichtig: ökologisches Bewusstsein und genaue Recherche.

Ein verseuchter Fluss

So wurde er hellhörig, als seine Frau bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch in ihrer alten Heimat nebenbei einen Satz fallen ließ, der den Anstoß zum aktuellen Buchprojekt geben sollte. Die beiden erkundeten zusammen die Region des Flusses Tetscha und Svetlana erzählte, dass sie in diesem Fluss nie schwimmen durfte – „weil der Fluss wohl radioaktiv verseucht ist“. Der Fluss entspringt in der Nähe der Stadt Osjorsk, in der sich eine der größten Atomanlagen der Russischen Föderation befindet. Hier hatte Stalin zu Teilen seine erste Atombombe entwickelt und hier ereignete sich 1957 die drittgrößte Atomkatastrophe nach Tschernobyl und Fukushima. Ein todgeweihter Flecken Erde also? Schwerindustrie, Umweltverschmutzung, Landflucht, Verfall, Depression – so viele Probleme, die dieser Region nicht fremd sind. Und trotzdem geht das Leben weiter.

„Es mag nicht in der russischen Natur liegen, solche Dinge zu hinterfragen, aber ich wollte mehr wissen und machte mich auf die Suche nach Antworten“, erzählt Chris Bierl. Antworten auf Fragen, die Svetlana seit ihrer Kindheit und Jugend unbewusst in sich trug. Warum essen die Menschen die Karotten aus der Erde oder trinken die Milch ihrer Kühe, obwohl sie genau wissen, dass sie radioaktiv belastet sind? Warum leben hier kaum Männer, die älter als 60 Jahre alt werden? Warum protestieren die Leute dennoch, wenn das dreckige Kupferwerk, das jede grüne Ecke im Umkreis zerstört, geschlossen werden soll?

„Für mich war schnell klar, dass ich einem meiner Grundbedürfnisse nachgehen möchte, nämlich mit Bildern den Blick von außen zu ermöglichen“, erzählt Chris Bierl. Also reiste er mit Svetlana in drei Jahren mehrere Wochen durch die Region, anfangs am Ufer des Flusses entlang, bald auch in zerbaute Städte, alte Steinbrüche und wunderschöne Nationalparks, die inmitten zerstörter Landschaften liegen.

Er entdeckte Orte wie Karabasch mit seiner Kupferhütte. Er lichtete moderne Neubausiedlungen mit riesigen Hochhäusern ab, verharrte bei minus 30 Grad auf einer einsamen Straße, bis er zufrieden war mit einer Aufnahme und näherte sich behutsam den Menschen, um sie um ein Porträt zu bitten. „Natürlich befürchtete ich anfangs, als Fotograf aus dem Westen mit dem Finger auf dieses Russland zu zeigen. Man läuft ziemlich schnell Gefahr, das zu tun. Wie sollte ich, der ich aus einer privilegierten Gegend komme, diese Hintergründe und Zusammenhänge verstehen?“ Seine Frau begleitete ihn als Autorin und Übersetzerin und öffnete die Türen in eine andere Welt.

Unglaublich herzlich

Am Anfang begegnete man dem Fotografen durchaus mit Skepsis. Kaum einer verstand, warum der Typ aus Deutschland diese Orte ablichten möchte. „Durch Svetlana fand ich aber Zugang zu den Menschen, die dann schnell unglaublich herzlich waren. Da sind sich der Bayer und der Russe nämlich gar nicht so fremd. Wahrscheinlich sogar ähnlicher als man glauben würde.“

Und so fing Bierl in vielen Aufnahmen die Essenz dieser Gegend ein. Es sollte kein weichgezeichnetes Bild werden. Er wählte bewusst die eher kühleren Monate, wo das Leben noch beschwerlicher ist, für seine Reisen. Er wollte nicht nur Melancholie und Tristesse abbilden, sondern die Orte unvoreingenommen so zeigen, wie er sie vorfand. „Ich nenne meine Bilder soziale Landschaften – denn, ob direkt oder indirekt, bilden diese Aufnahmen ein Gesellschaftsporträt. Fast nichts in dieser Gegend wäre so, wie es ist, wenn der Mensch nicht eingegriffen hätte.“

Verlag:Inhalt: Kapital:Kontakt
„A One Storied Country“ von Chris Bierl erscheint im The Velvet Cell-Verlag.Das Buch umfasst über 270 Seiten und enthält Bilder von Chris Bierl und Texte von Svetlana Bierl.Finanziert wird es durch ein Crowdfunding-Projekt von Vorab-Käufern. Jeder, der das Buch vor Erscheinen bestellt, bekommt eine signierte Ausgabe, eine Sammlerbox und limitierte Drucke. Außerdem wird der Name jedes Unterstützers im Buch verewigt.: Infos und die Möglichkeit zur Bestellung gibt es unterwww.thevelvetcell.com/chris-bierl.

Bierl sagt, er habe durch seine Arbeit vieles verstanden und möchte mit seinen Bildern dieses Verständnis weitergeben. „Ich weiß jetzt, warum die Menschen vieles dulden und akzeptieren, zum Beispiel das Gemüse aus ihrem Garten zu essen, auch wenn es verseucht ist – sie haben schlichtweg keine andere Wahl, sind in ihrer Heimat verwurzelt oder haben Angst davor, anderswo neu anzufangen.“

Mit ihrer Arbeit Verständnis und Interesse zu vermitteln, war ein Ziel. Zudem wollen die beiden auch den Leuten etwas zurückgeben. Vor allem den Arbeitern, den einfachen Menschen, die fast nie ihr Zuhause verlassen werden. „Einmal hat mich meine Schwiegermutter ganz verwundert gefragt, wo eine Aufnahme entstanden sei“, erzählt Chris Bierl. „Dabei war es eine Ecke, an der sie jeden Tag auf dem Weg zu ihrer Arbeit vorbeiläuft.“ Seit diesem Moment sieht sie ihre Heimat mit anderen Augen.