Menschen
Auf der Spur der Ursprünglichkeit

Lehrerin Sabine Baumer unterrichtete statt Chamer Gymnasiasten drei Monate Erwachsene und Grundschulkinder – in Nepal.

17.06.2016 | Stand 16.09.2023, 6:42 Uhr
Die Chamer Gymnasiallehrerin Sabine Baumer im Kreise ihrer nepalesischen Schülerinnen und im typischen Gewand des Landes – drei Monate unterrichtete sie Englisch und lernte Land und Leute kennen. −Foto: Baumer

Es sind die kleinen Szenen des Alltags, die sie anrühren, die im Kopf bleiben und sich ins Herz eingraben. Die kleine Hand, die ihr ein Bonbon in die Tasche schiebt. Als Dank für das Stück Brot, das Sabine Baumer von der eigenen Mahlzeit abgezweigt und an das kleine Mädchen weitergereicht hat. Brot ist hier in Nepal etwas Besonderes, etwas Wertvolles.

Vielleicht, weil es jeden Tag nur Reis und Gemüse – mehr noch, weil es nicht genug Essen für alle gibt. Die Kinder kennen vieles nicht – eines kennen aber viele von ihnen, sagt die 47-Jährige: Hunger. Die Gymnasiallehrerin hatte sich drei Monate unbezahlten Urlaub genommen, um sich auf die Suche zu machen. Nach Neuem, aber auch nach Ursprünglichem. Und sie wurde im Himalaya fündig. Wobei es Zufall war, dass Sabine Baumer die Kinder von Nepal getroffen hat.

Genau das, was gesucht war

„Ich wollte ein Land ohne Terror“, beschreibt Baumer ihr Kriterium. Dazu nach 17 Jahren als Gymnasiallehrerin etwas Abstand zu Schule und Schülern und auch noch etwas Sinnvolles tun. Und irgendwie ging sie auch auf die Suche nach eigener Erfüllung. Über eine Kollegin an ihrer Schule in Cham, die bei derNepalhilfe Mitterfelsmitarbeitet, bekam sie Kontakt zur Deutsch-Nepalesischen Hilfsgemeinschaft, die seit 40 Jahren in Nepal engagiert ist. Das war der Treffer: Englischunterricht für Kinder und Erwachsene lautete der Auftrag. „Genau das, was ich gesucht habe!“, sagt die Pädagogin in der Rückschau.

„Ich wollte ein Land ohne Terror.“Sabine Baumer

Auch, wenn nur kaltes Wasser aus der Leitung kam, keine Waschmaschine vorhanden ist, Straßen spärlich verteilt sind, die Luft extrem verschmutzt ist und sie gleich vier kleine Erdbeben erlebte. Das Gesuchte hieß für sie fünf Wochen in Kathmandu Erwachsene der Hilfsorganisation in Englisch trainieren und fünf Wochen auf dem Land 250 Kindern einer Grundschule die Sprache vermitteln. Für die Lehrerin, die in Cham am Gymnasium Englisch und Deutsch unterrichtet, hört sich das nach Unterforderung an. Das Gegenteil war der Fall – sonst nur deutsche Gymnasiasten vor sich, stand sie plötzlich ungestümen, kleinen Nepalesen gegenüber: „Die Grundschulkinder haben mich natürlich völlig überfordert!“

Watschen als Erziehungsform

In Nepal zählt die Watschen noch immer zum angesehenen Erziehungsmittel – auf Wunsch der Eltern werde hier geschlagen. „Einmal wurde gleich die ganze Klasse der Reihe abgewatscht“, sagt Sabine Baumer. Für sie aus dem Land der Helikoptereltern und der überbehüteten Heranwachsenden eine gewöhnungsbedürftige Prozedur. Dazu müssen die kleinen Nepalesen tagein und tagaus nur englische Texte abschreiben, um Englisch zu lernen. Eine stumpfsinnige Methode.

Die aber die Kinder nicht ermüdet, sagt die gebürtige Oberviechtacherin: „Die Schüler sind wild, schlitzohrig, rotzfrech, ohne Angst und witzig – aber ebenso herzlich und rücksichtsvoll.“ Ganz anders als viele Kinder und Jugendliche bei uns – sind sie bereits im jüngsten Alter sozial genordet, rücksichtsvoll und teilen gerne das Wenige, was sie haben.

Es komme nicht aufs neueste Handy oder die schönsten Sneakers an, sondern auf das Miteinander, auf den Nächsten. Eigentlich hätten sie nichts zu lachen – und doch seien sie wie auch die Erwachsenen immer fröhlich. „Sie haben ein ganz anderes Gefühl für Dinge, die wichtig sind!“ Dieses Ursprüngliche habe sie gesucht und gefunden – irgendwo Kinder, wie sie auch bei uns einmal waren. Ohne Konsumdenken.

„Sie haben ein ganz anderes Gefühl für Dinge, die wichtig sind!“Sabine Baumer

Sie habe als Lehrerin in Cham schon Magersüchtige, Ritzer – also Kinder, die sich selbst verletzen – und Jugendliche mit anderen Problemen gehabt. Solche psychischen Krankheitsbilder suche man in Nepal vergeblich. Vergleiche man das Hier mit den Kindern, die sie jetzt erlebt habe, spüre man, was verloren gegangen sei.

Die Schule sei trotz der Kargheit, dem monotonen Unterricht, den 24 Stromausfällen am Tag oder dem Lehmboden unter den Füßen der Magnet für Kinder. „Und ihre Hoffnung“, so Sabine Baumer. Alle hoffen und träumen davon mit dem, was sie lernen, einmal ein besseres Leben zu finden.

Keinerlei Umweltschutzgedanke

Das Land befinde sich im Umbruch. Und in der Klemme, denn Indien würde sich das Land gerne einverleiben und verdient immens an dem, was nach Nepal geliefert wird. Nepal hat viele Seiten, die sie fasziniert und geschockt haben. So kennt Nepal keine Müllabfuhr und keinen Umweltschutz. „Die Flüsse stinken alle“, sagt sie. Alles liegt am Straßenrand vor den Häusern und vermodert, vom toten Hund bis zur Plastiktüte. „Das war für mich das Schlimmste“, sagt sie. Doch vermisst hat sie nichts vom hiesigen Wohlstand. Dazu lebt das Land dem Eindruck nach von Nichtregierungsorganisationen (NGO).

Seit dem schweren Erdbeben im vergangenen Jahr sind sie verstärkt vor Ort, übernehmen die Versorgung und den Wiederaufbau. Woran sich die Nepalesen schnell gewöhnt haben – dass andere ihre Arbeit machen, meint Baumer. Dazu blute das Land aus – sechs Millionen Nepalesen würden außerhalb des Heimatlandes studieren – und kämen wohl nie mehr zurück. Dazu würden viele als Wanderarbeiter nach Saudi-Arabienoder Katar ziehen. Manche Väter ihrer Schüler seien nur alle drei Jahre in der Heimat.

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