MZ-Serie
Bei der Teerunde sprachen alle Englisch

In den Ferien durfte Alexander Metz zu seiner Cousine. Dort brauchte er eine Puppe, um mit den Mädchen mitzuhalten.

02.12.2015 | Stand 16.09.2023, 6:59 Uhr
Alexander Metz
Alexander Metz erinnert sich an seine Kindheit in Cham. −Foto: Metz

Meine Tante Katharina war die Frau eines Bankdirektors. Sie kam aus Landshut und hatte es sehr zum Leidwesen der eingesessenen Chamer Bürgerstöchter geschafft, den ewigen Junggesellen Sosthenes Sailer an den Traualtar zu bewegen. Mein Onkel war mein Vormund, denn als unehelich geborenes Kind brauchte ich einen solchen. Tante Kathrin, Onkel Sost und meine Cousine Gabi wohnten direkt über dem Bankschalter und den Büros der Schmidt-Bank in der Fuhrmannstraße, zwischen einer Eisenwarenhandlung zur Rechten und einer Bäckerei zur Linken.

In den Ferien durfte ich immer zu meiner Cousine gehen, um mit ihr und ihren Freundinnen zu spielen. Und schon wieder war ich unter lauter Mädchen. Um mit diesen mithalten zu können, wünschte ich mir zu Weihnachten in einem Anflug geistiger Umnachtung doch tatsächlich eine Puppe und ein andermal einen Kaufladen. Mit meinen Bausteinen und der Fleischmann-Eisenbahn zum Aufziehen konnte ich bei ihnen wirklich nicht landen.

Es gab Ärger mit der Cousine

Auch damit, dass ich in der Puppenküche meiner Cousine eine Warmwasserheizung aus alten Blechbüchsen installierte, die man mit einer brennenden Kerze hätte erwärmen sollen, konnte ich nicht punkten, schon gar nicht bei meiner Tante, die kleingläubig wieder einmal ihre Wohnung in Flammen aufgehen sah. Großen Ärger gab es mit meiner Cousine, als ich ihren grünen Kaufladen mit rotem Bohnerwachs einrieb und polierte. Irgendwie wollte ich mich im Puppenhaushalt nützlich machen, was sie aber nicht verstand.

Meine Tante, selbst aus einer gut bürgerlichen Landshuter Familie stammend, führte einen für Chamer Verhältnisse eher gehobenen Haushalt. Schon ihre Wohnung war im Vergleich zu unserer mehr als bescheidenen Propsteistraßenbehausung geradezu als herrschaftlich einzustufen. Sie besaß ein Speisezimmer mit hellen Kirschholzmöbeln und einem Besteckkasten mit silbernen Gabeln, Messern und Löffeln, ein Wohnzimmer mit langen Bücherregalen, einem gekachelten Couchtisch und wuchtigen Sesseln im Englischen Stil, ein Schlafzimmer, eine Küche mit einem Elektroherd und einem dickbauchigen Bosch-Kühlschrank, eine Speisekammer, ein großes Kinderzimmer, das Reich meiner Cousine Gabi, ein Badezimmer mit blauen Kacheln, einer Badewanne und fließend heißem und kaltem Wasser, ein Balkonzimmer mit Blick zum Hinterhof und zum Dachgarten und eine Toilette außerhalb der Wohnung, aber auf derselben Ebene, mit einem Spülklosett und richtigem Toilettenpapier von der Rolle.

Mein Onkel und meine Tante hatten auch ein Telefon. Ein schwarzer Apparat mit einer Wählscheibe und einer Gabel, auf die man den Hörer legte. Das war etwas ganz Besonderes, weil selten. Nur wenige Leute in Cham besaßen einen Telefonanschluss. Der schwarze Apparat mit der silbernen Wählscheibe über dem weißen Zahlenkarussell stand auf einem kleinen Podest, das an der Wand im Flur hing, direkt neben dem Badezimmer.

„Pass me the suggar please“

Ein Besuch bei meiner Tante und bei meiner Cousine war immer wie ein Ausflug in eine andere Welt. Eine Welt, in der ich mich wohlfühlte, zu der ich gefühlsmäßig eigentlich gehörte. So gab es bei meiner Tante, die von 1937 bis 1939 in England gelebt hatte, jeden Nachmittag den sogenannten Vieruhrtee für ihre Familie und alle Kinder, die zu Besuch bei ihr waren. Sie sagte „Four o’clock Tea“. Und wir Kinder waren angehalten, während der Teerunde unsere Wünsche in Englisch zu formulieren.

„Pass me the suggar please“ oder „pass me the milk please“, war das Mindeste, was sie von uns erwartete. Und ein „Thank you“, wenn eines von beiden „gepassed“ wurde. Zum Tee gab es stets ein süßes Plundergebäck oder einen Kuchen. Im Sommer backte die Tante fast jeden Tag einen gedeckten Apfelkuchen, von dem nach so einer Teerunde kein einziges Stück mehr übrig blieb.

Aus primitiven Verhältnissen

Meine Cousine schleppte jede Menge Freundinnen an, von denen einige, wie ich, eher aus sehr bescheidenen, um nicht zu sagen primitiven Verhältnissen kamen und, wie ich, den derben Waldlerdialekt sprachen.

Meine Tante spannte uns Kinder in den Haushalt mit ein, wir durften Staub wischen, den Mülleimer ausleeren, den Boden fegen, den Boden blockern und, was ich besonders gerne tat, weil elektrisch betrieben, Staub saugen mit einem elektrischen Staubsauger. Dafür lud sie uns zum Essen ein und lehrte uns, ordentlich zu sprechen. Schon bald lernte ich, dass ein Rammel ein Nasenpopel ist, den man nicht essen darf, dass „drucka maoue“ (drücken muss ich) korrekt heißt „Ich muss auf die Toilette, und zwar groß“ und dass ein Abort Toilette heißt. Auch dass man sich nach dem Besuch der Toilette die Hände wäscht, musste die Tante uns Gassenkindern beibringen. Meine Tante ging mit uns Kindern im Sommer jeden Tag zum Schwimmen in die Badeanstalt mit den hölzernen Umkleidekabinen, in denen man sich beim Ausziehen leicht einen Schiefer einziehen konnte.

Oder zum Quadfeldmühlbach, der bei der alten Mühle und dem riesigen Wasserrad mit den breiten hölzernen Schaufeln ein natürliches Ende unseres Spiel- und Schwimmbereichs bot. Wir alle lernten das Schwimmen von ihr, erst mit einem grünen Gummischwimmreifen und dann ohne Hilfsmittel.

Sie war sehr gastfreundlich

Manchmal kamen auch Gäste zum Mittagessen oder zum Abendessen. Meine Tante, selbst aus einer Gastronomie- und Brauerfamilie stammend, war sehr gastfreundlich und hatte immer ein offenes Haus. Am Donnerstag erwartete sie einen älteren Herrn im grauen Anzug und mit einer dunklen Schleife am Hals zum Mittagessen. Es war dies der Schriftsteller Ewald Gerhard Seeliger, der sich damals mit einem Augenzwinkern als Ewger Seeliger vorstellte.

Mein Onkel und meine Tante unterhielten sich angeregt mit ihm. Wenn der Gast die Wohnung verließ, steckte ihm mein Onkel immer so ganz beiläufig zehn Mark zu. Der einst so berühmte Bestsellerautor Seeliger war ziemlich verarmt und seine Bücher waren nicht mehr gefragt.

Da er sich geweigert hatte, sich von seiner jüdischen Ehefrau scheiden zu lassen, war er im Dritten Reich aus der Reichsschrifttumskammer ausgewiesen worden, seine Bücher durften nicht mehr veröffentlicht werden und er verlor so sein Publikum.

Prinzregententorte war Standard

Hatte meine Tante Gäste zum Kaffeekränzchen geladen, so wurde die Torte hierfür beim Café Gottschalk am Marktplatz bestellt. Standard war die Prinzregententorte, zu besonderen Anlässen gab es eine Giraff-Torte (sprich Schiraff-Torte), die hauptsächlich aus geschlagenem, rohem Eiweiß und viel, viel Zucker und Schokolade bestand. Auch Schaumrollen vom Gottschalk wurden gerne gereicht.

Einmal hatte meine Cousine Gabi den Auftrag, eine Giraff-Torte vom Café Gottschalk zu holen, die man bereits tags zuvor per Telefon bestellt hatte. Gabi balancierte konzentriert die Schachtel mit dem süßen Inhalt über das Kopfsteinpflaster, kam halben Weges auf die Idee, nachzusehen, ob die Torte als solche sich noch immer in der Schachtel befinde, öffnete, ohne ihre Schritte zu mindern, den Deckel, übersah die Gehsteigkante unten beim Hotel Gress und flog auf die Nase, so dass sich ihr Gesicht in die weiche Schokoladenmasse drückte.

Und weil diesmal die Damen der Chamer Hautevolee erwartet wurden, verlor auch meine sich sonst eher gewählt ausdrückende Tante ihre Contenance und schimpfte ihre Tochter eine „blöde Kuh“.