Literatur
Benjamin Button und sein unbekannter Buchbruder

„Der seltsame Fall des Benjamin Button“ ist ein preisgekrönter Film. Seltsam ist auch die Geschichte seiner literarischen Vorlage.

13.01.2011 | Stand 16.09.2023, 21:09 Uhr
Christine Hegen

Regensburg.Ein Film über das Älterwerden, Vergänglichkeit und die richtige Liebe zur falschen Zeit: „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ war einer der Kinofilme 2009 – nominiert für 13 Oscars, gefeiert von Kritikern mit einem Brad Pitt in seiner vielleicht beeindruckendsten Rolle.

Umso besser, wenn sich ein derart epischer Film auf die passende literarische Vorlage berufen kann. Die Macher des Film nennen offiziell „The Curious Case of Benjamin Button“ von Scott F. Fitzgerald im Abspann. Fitzgerald macht sich gut. Aus seiner Feder stammt auch „Der große Gatsby“.

Film und Buch decken sich nicht

Genau hier beginnt aber das eigentliche Problem: Recht viel mehr als inspiriert durch Fitzgerald kann sich der Film nicht nennen. Der Titel und ein Mann, der rückwärts altert, das ist der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich Vorlage und Film bringen lassen. Stammt also der Titel des Streifens von Fitzgerald und die eigentliche Geschichte aus der Feder von Drehbuchautor Eric Roth, der auch für „Forrest Gump“ verantwortlich ist?

Mit dieser Erklärung könnte man theoretisch gut leben – gäbe es da nicht noch ein anderes Buch: „Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli“ von Andrew Sean Greer. Sein Buch kam 2004 auf den Markt. Zur gleichen Zeit waren die Arbeiten am Button-Drehbuch bereits in vollem Gange. Purer Zufall? „Ja“, sagt Autor Greer lapidar. „2004 wollte offenbar jeder rückwärts altern.“ Doch auch hier gilt wieder: Ganz so einfach ist es nicht.

Denn der Film und Greers Buch haben weit mehr gemeinsam als nur die Idee des Alterns im Rückwärtsgang und vor allem weitaus mehr als der Film und Fitzgerald. Sowohl Max Tivoli als auch der Film-Benjamin verlieben sich und treffen diese Frau drei Mal in ihrem Leben – einmal jung, einmal alt und einmal genau zu dem Zeitpunkt, in dem sich das Alter und die körperliche Erscheinung decken. Der Film erzählt eine Lebensgeschichte. In Greers Buch legt der Protagonist eine Lebensbeichte ab. Bei Fitzgerald findet sich dagegen keine Spur von wahrer, aufrichtiger Liebe.

Regensburg.Darüber hinaus spiegelt der Film genau die Atmosphäre von Greers Werk. Das attestiert sogar der Autor selbst. „Ernst, wunderschön und traurig – der Film trifft genau den Ton, den ich mir erhofft hätte, wenn jemand aus meinem Max einen Film gemacht hätte“, sagt der Schriftsteller.

Tatsächlich trat Paramount im Mai 2004 an ihn heran, um über die Filmrechte zu verhandeln. Greer lehnte ab. Deswegen fehlt heute sein Name im Zusammenhang mit dem Film. Der Schriftsteller hatte Gründe: „Es war kein Angebot, meinen Max in einem Film zu verwandeln. Sie waren bereits dabei, einen Button-Film zu machen.“

Andrew Sean Greer wird auch ohne diese Schützenhilfe zu einem gefeierten Autor in den USA. „The Confessions of Max Tivoli“ zählt dort 2004 beim Online-Händler Amazon zu den meistverkauften Büchern des Jahres. John Updike vergleicht Greers Erzählstil im Magazin „New Yorker“ mit Marcel Proust. 2008 erscheint Greers zweiter Roman, „Story of a Marriage“, ein zweiter Erfolg. Aktuell arbeitet er an einer weiteren Geschichte, die im kommenden Jahr erscheinen soll.

Greer kann die Akte nicht schließen

Greer arbeitet verbissen, feilt und schleift an seinem neuen Buch. In Interviews dreht sich darum aber nur ein kleiner Teil – der Rest: Benjamin Button und Max Tivoli. Es lässt ihn nicht los. Greer rechtfertigt sich in jedem Gespräch, in jedem Interview, bei jeder Lesung. „Alle Parteien sind unschuldig. Keiner hat irgendetwas gestohlen! Keiner hat den anderen beeinflusst“, brüllt es sich Greer auf seiner Homepage förmlich von der Seele.

Max Tivoli ist für ihn die Figur, die ihn zum Schriftsteller machte. Heute – nach dem Film – erklären ihm Menschen, dass sie bei der Lektüre Brad Pitt vor ihrem inneren Auge sahen, der den Film-Benjamin spielte. „Noch nie hat mich etwas so verletzt“, sagt Greer. „Der Film zerstört die Lektüre.“

Wie wichtig ist eine Idee?

Gleichzeitig geht er seitdem anders mit Literatur um. Er erschafft nicht mehr nur Geschichten, sondern setzt sich auch auf der Metaebene mit ihnen auseinander: Wie viel ist eine Buchidee wert? „Die meisten Bücher klingen grauenvoll, wenn man sie auf die Idee herunterbricht. Nehmen wir Moby Dick – das ist eine Vielzahl von Gesprächen über Wale“, erklärt Greer. Nur die Filmindustrie und das Kino machten uns glauben, dass sich alles um die Idee drehe. Wenn dem so wäre, müsste fast immer irgendjemand von irgendwem gestohlen haben.

Seine jüngste Erfahrung gibt Greer mit dieser These Recht. Seit Greer verraten hat, dass sein nächstes Buch eine Zeitreise-Geschichte wird, muss er regelmäßig die Frage beantworten, ob der Roman wie „Die Frau des Zeitreisenden“ von Audrey Niffenegger sei. „Die Menschen mögen den Gedanken nicht, dass fast jede Art von Geschichte schon einmal erzählt worden ist.“ Und dass trotzdem jede Geschichte auf ihre eigene Art erzählt wird.