Kunst
Braucht die Welt diese Dinge?

Der Künstler Anton Kirchmair wurde Minimalist aus Achtsamkeit gegenüber Natur und Leben. Eine Geschichte über Demut

11.01.2019 | Stand 16.09.2023, 5:57 Uhr
Michaela Schabel

„Aus nix was g’macht“. Anton Kirchmair verwendet Materialien, die vor der Haustür wachsen. Foto: Schabel

Mit seiner Frau Martha lebt Anton Kirchmair, seine Freunde nennen ihn Toni, in Marchäuser in der Gemeinde Haidmühle, wo der Wald und im Winter der Schnee das Leben bestimmen, wo die Nächte noch dunkel sind. Als Jahrgang 1943 kennt Kirchmair die Lebensunterschiede. Er kann sich erinnern, als er als Kleinkind mit den Eltern durch das zerbombte München lief, später mit dem Vater, einem Gelegenheitsarbeiter und Bergsteiger, von Ort zu Ort wanderte und die Dunkelheit der Nächte in den Bergen erleben lernte und später als Seemann die sternklaren Nächte über den Meeren.

Die elementare Not in der Kindheit, die harmonische Lebensweise der Naturvölker und die Stille der Nacht wurden mit zunehmenden Alter immer mehr die Richtlinien seiner Lebensweise und seines künstlerischen Schaffens.

Wenn er nachts ganz allein durch den Wald wandert, die Bäume riesig in den Himmel ragen, wird er sich der Schöpfung bewusst, deren Kreisläufe er nicht durch seine Existenz gefährden will. „Jeder strebt nach dem Eigentlichen. Aber was ist das Eigentliche?“ Für Toni Kirchmair liegt es in der Demut vor dem Leben, im Wissen, wie privilegiert sein Leben ohne Krieg und ohne Not ist. Der Blick auf das Eigentliche bringt aber auch Verantwortung. Toni Kirchmair unterrichtete als Kunstlehrer an der Landshuter Realschule über 1000 Schüler, hat vier eigene Kinder großgezogen und weiß um die Probleme von jungen Menschen, um die er sich immer angenommen hat.

Jetzt ist die Kunst der Mittelpunkt seines Lebens. Im Laufe der Jahre wurde sein Umgang mit Materialien immer reflektierter. So wie er nie ein Stück Brot wegwerfen würde, so achtsam geht er inzwischen mit Werkstoffen um. Was er früher wegwarf, nimmt er wieder und wieder in die Hände, befragt es nach den Möglichkeiten, die darin stecken. So entstehen seine Arbeiten aus den Serien „Der unter den Tisch Gefallenen“. Manchmal sind sie nur so groß wie Briemarken. In Fehldrucken, die erf rüher entsorgt hatte , entdeckt er die Schönheit „kaltgenadelt und malträtiert“.

Das Wort wird wichtiger

Toni Kirchmair will keine Ressourcen verschwenden, keinen Müll produzieren und hinterfragt so manches Kunstwerk kritisch „Braucht die Welt all diese Dinge?“ Auf betonschweren Sockeln thronen Skulpturen, die nach einigen Jahren mitunter ihre Aura verloren haben und nur noch im Weg stehen.

Kirchmair arbeitete immer schon gern mit den Materialien der Natur. Aus leichtem Pappelholz formte er im Anfang seines künstlerischen Schaffens „Schoten“, die wie Boote die Neue Galerie Landshut durchkreuzten. Immer kleiner wurden seine Objekte. Filigrane Kohlebauten mit überraschenden Perspektiven präsentierte er im Museum Moderner Kunst in Passau. Eine Ausstellung in Straubing wurde für Kirchmair zum Déjà-vu-Erlebnis. Beim Auspacken der Objekte fielen die Papiere zu Boden, behielten aber ihre skulpturale Form und wurden selbst Gegenstand der Ausstellung. Im Oberpfälzer Künstlerhaus in Schwandorf präsentierte Kirchmair vor wenigen Wochen „Mit leichtem Gepäck“ federleichte Skulpturen aus roten Buchenriedstäben.

In den vergangenen Jahren wurde das Schreiben und das Vortragen immer wichtiger. Kirchmair erzählt gerne und die Leute hören ihm aufmerksam zu. Sein erstes Buch „Drei Silben“ gab es nur in wenigen Auflagen als drei Meter langes Leporello in einer Glasbox gefaltet. Darin erzählt er von seinen Abenteuern als Matrose.

Er liest nicht vor, er inszeniert seine Texte mit Matrosenchor oder mit Gitarre wie bei seinem zweiten Buch „Er weiß, er ist ein Träumer – ein Träumer und ein Narr“. Noch eine Losblattsammlung wendet er jede Seite sorgsam, legt sie auf einen zweiten Stapel, wobei die Geschichte zwischen ihm und seinem Vater, dem Gelegenheitsarbeiter, Bergsteiger und Künstler, Assoziationsketten vom Einst ins Jetzt entwickeln lässt und sich aus dem Klischee der guten alten Zeit, dem Lob der Arbeit die Kritik am Zuviel der Dinge unserer Tage herauskristallisiert. Autobiografisches fließt distanziert durch die auktoriale Erzählperspektive ein.

Anton Kichmair, bildender Künstler und Zeichner, verwandelt sich dabei selbst zum Archetypus des kritisch reflektierenden Vaters, den die Schuld an der Welt der Dinge drückt, die niemand braucht. Er kann zwar allmählich seinen Rucksack leeren, nicht aber den von allen. Zuviel wurde angesammelt. Selbst die Kunst fühlt sich zu schwer an, hinterlässt viel zu wuchtige Druckstellen, zu viel Müll. Leicht müssten sie sein die Skulpturen von heute, wie „Tausend Flocken Schnee“, „wie frisch gewaschene Wäsche im Wind“. Stattdessen „entjungfert die Gier“ Spuren zu hinterlassen die Umwelt. Von der Geburt bis zur Bahre zwängt das Leben ein, „entgöttert, entpflanzt und enttiert“ und hinterlässt ausgetretene Fußspuren.

In Metaphern und Neologismen gelingt Anton Kirchmair eine tiefgründige Parabel heutigen Lebensstils, der inklusive der Kunst immer mehr vermüllt und zerstört. Und er zieht die Konsequenzen. Er verwendet keine neuen Materialien mehr, sondern das, was er bereits hat, was rundherum wächst. „Mit nix was g’macht“.

Hier geht es zum Bayern-Teil.

Hier geht es zur Kultur.