Leben
Das Münchner Viertel mit dem orientalischen Herzen

Rund um den Bahnhof ist die Landeshauptstadt multikulturell. Bei einer Stadtführung erfährt man, dass es hier nichts gibt, was es nicht gibt.

24.10.2010 | Stand 12.10.2023, 10:04 Uhr

München.„Bahnhofsviertel“ nennen viele Münchner das Areal ihrer Stadt, in dem eine bunte Mischung aus Erotik-Bars, Computerläden und Obstgeschäften zu Hause ist. Dass hier der „Orient Münchens“ zu finden ist mit all seinen bunten, aber auch religiösen Facetten, zeigt ein Stadtrundgang durch die Straßen in Hauptbahnhofsnähe unter der Leitung der Islamwissenschaftlerin Elisabeth Siedel.

Warum werden Schiller- und Goethestraße, Landwehr- und Schwanthalerstraße vor allem von Ausländern bevölkert? Elisabeth Siedel wirft einen Blick zurück in die Stadtgeschichte: Die sogenannte „Ludwigsvorstadt“ war unter König Ludwig I. einst als Villengegend angelegt worden. Allerdings gerät das Viertel in Verruf, als immer mehr ledige Frauen nach München streben, um Arbeit zu suchen, und schon am Bahnhof von Schleppern in die Prostitution gezwungen werden. Abhilfe sollte die 1897 gegründete Bahnhofsmission schaffen – heute haben 97 Prozent der dort Hilfesuchenden einen Migrationshintergrund.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Bahnhof und seine Umgebung zerstört sind, werden die Häuser in schneller Plattenbauweise wieder hochgezogen. Ab 1960 kommen dann auf Gleis 11 die damaligen „Gastarbeiter“ an: Italiener und Jugoslawen werden sofort in den Bunker unter dem Bahnhof geführt. Dort können sie duschen, essen, werden als Arbeitskräfte vermittelt und finden im Bahnhofsviertel eine Unterkunft.

Seit den 1990er-Jahren haben die Straßenzüge flächendeckend eine türkische Händlerstruktur. Rund ein Dutzend Interessierte, die entweder beruflich mit Migranten zu tun haben oder selbst in diesem Viertel wohnen, folgen Siedel an diesem Nachmittag durch das pittoreske Quartier.

Eingeladen hat die InterKulturelle Akademie der Inneren Mission München, die diesen erfolgreichen Stadtspaziergang bereits zum sechsten Mal anbietet.

München.„Nichts, was es hier nicht gibt“, sagt Siedel, und führt die Gruppe zu alteingesessenen Läden, in denen vom Schal für Fußballfans über Koffer und Gebetsketten bis hin zu Videos und Musik-CDs alles zu finden ist. Gleich gegenüber gibt es beim Friseur die traditionelle Kopfmassage für Herren – der Inhaber, so Siedel, habe noch weitere Filialen in Deutschland und der Türkei. Viele der Geschäftsleute haben mit Obstläden angefangen, heute betreiben sie Reisebüros, Immobilienfirmen, Apotheken oder Beerdigungsinstitute, spezialisiert auf Bestattungen in der Türkei. Als Nachbarn haben die Türken zuweilen ein Eros-Center, aber insgesamt ist man im Stadtviertel bestrebt, das Rotlicht-Milieu zurückzudrängen.

Auch 60 Prozent der Hotellerie Münchens findet man in diesem Areals. Viele arabische Touristen, die sich in München medizinisch behandeln lassen, übernachten in Apartment-Häusern, persische Taxifahrer bringen die Gäste zu persischen Groß-Gaststätten in der Dachauer Straße.

Aber in diesem Viertel geht es nicht nur ums Geschäft – auch wenn die Schmuckläden mit den Goldketten für die Aussteuer und die Modeläden mit glitzernden Abendkleidern, türkisch-gediegenen langen Röcken und den Prinzen-Anzügen für beschnittene Buben ins Auge fallen. Wer genau hinschaut, entdeckt in Hofeinfahrten eine Vielzahl von Schildern, die auf religiöse Gruppierungen verweisen. Rund um die Landwehrstraße hat Elisabeth Siedel etwa 40 Moscheen – türkisch „cami“ – gezählt, und keine davon ist von außen als solche erkennbar.

„Das Leben findet mehr auf der Straße statt“, erzählen Teilnehmer des Rundgangs. Der neueste Zuwachs sind rund 500 muslimische Uiguren, eine verfolgte Minderheit aus China. Sie betreiben am Bahnhofsvorplatz einen Imbiss und haben damit einen besseren Status als jene fünfzig Roma, die allmorgendlich vor einer Bäckerei warten, bis Bauunternehmer sie für einen Job mitnehmen.