Lesung
Den Holocaust persönlich nehmen

Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft erinnerte an Léon Poliakov.

18.02.2020 | Stand 16.09.2023, 5:10 Uhr
Florian Sendtner

Janina Reichmann und Alexander Carstiuc lasen aus den „Memoiren eines Davongekommenen“ von Léon Poliakov. Foto: Florian Sendtner

Antisemitismus? Da zuckt der Durchschnittsdeutsche zusammen und duckt sich weg: Er wird, er kann ja damit nicht gemeint sein! Und schon hat sich alles verkantet, ist jede historisch-politische Erkenntnis, Selbsterkenntnis gar, unmöglich. Die Wahrheit ist eine andere: Der Antisemitismus ist ein jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealtes Phänomen, eine Krankheit, die man mit der Muttermilch aufsaugt.

Nein, beileibe nicht nur in Deutschland! Aber hier in besonders tödlicher Intensität. Tödlich natürlich nicht für einen selber, tödlich für den anderen, für den Juden. Vielleicht könnte man so die Quintessenz von Léon Poliakovs Lebenswerk umreißen. Poliakov war ein Pionier. In den Nachkriegsjahren, als Deutschland noch darauf hoffte, der Massenmord an den europäischen Juden könne sich durch konsequentes Beschweigen unter den Teppich kehren lassen, veröffentlichte Léon Poliakov „Bréviaire de la Haine“, das „Brevier des Hasses“, das bezeichnenderweise bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde – „die erste analytische Arbeit über den Holocaust überhaupt“ (A. Carstiuc).

Von 1977 bis 1988 legte Poliakov dann eine achtbändige „Geschichte des Antisemitismus“ von der Antike bis zum 20. Jahrhundert vor, die bis heute als Grundlegung und Standardwerk der Holocaustforschung anerkannt ist. Poliakov war Jude, und er nahm den Holocaust persönlich: „Ich wollte wissen, warum man mich umbringen wollte – mich und Millionen andere unschuldige Menschen.“

„Den Holocaust persönlich nehmen“ – so ist das Nachwort von Alexander Carstiuc zu Léon Poliakovs nun endlich auf Deutsch erschienener Autobiografie „St. Petersburg – Berlin – Paris – Memoiren eines Davongekommenen“ überschrieben (Edition Tiamat, 287 Seiten, 24 Euro). Bei der Vorstellung des Buchs durch Carstiuc, der Herausgeber und (zusammen mit zwei anderen) Übersetzer des Buchs ist, sowie Lektorin Janina Reichmann in der Neuen Synagoge in Regensburg am Montagabend wurde schnell klar, dass Léon Poliakov gegen sämtliche Regeln der political correctness verstößt.

Das geht damit los, dass Poliakov sich selbst im Alter von sieben Jahren in St. Petersburg „feudalherrenartiges Betragen“ bescheinigt, mit neun Jahren charakterisiert er sich als „kleinen Faschisten“, und mit 13 habe er, über Nacht nach Berlin verpflanzt, davon geträumt, „Kampfflieger zu werden, um mit einer Bombe den Élysée-Palast zu zerstören“ – als Rache für die Besetzung der Ruhr durch Frankreich. Letzten Endes landete Poliakov in Paris. 22 Jahre nach seinem Tod ist es Zeit, dass er endlich auch in Deutschland landet.