Der „vierte Stamm“ geht langsam in Bayern auf

Die Integration der vertriebenen Sudetendeutschen ist eine Erfolgsgeschichte, die auch ein wenig traurig stimmt

20.11.2006 | Stand 20.11.2006, 0:00 Uhr

Von Gustav Norgall, MZ

WALDKRAIBURG. „Die gelungene Integration der Vertriebenen ist das eigentliche Wunder der Nachkriegsgeschichte.“ Diese Feststellung des Bundesvertriebenenministers Hans-Joachim Merkatz (er amtierte 1960/61) gilt besonders auch für Bayern und die Sudetendeutschen. 1950 lebten in Bayern bei einer Gesamtbevölkerung von rund neun Millionen Menschen insgesamt 1,9 Millionen Heimatvertriebene, davon waren etwa eine Million Flüchtlinge aus Böhmen und Mähren. Damals hofften laut einer Umfrage des Statistischen Landesamtes etwa 80 Prozent der Vertriebenen auf eine rasche Rückkehr in die alte Heimat – und auch die Einheimischen hätten, wie Wahlerfolge der Bayernpartei signalisierten, wohl wenig dagegen gehabt, wenn zum Beispiel die Sudetendeutschen Bayern wieder verlassen hätten.

Wirtschaftswunder half

Das Wirtschaftswunder veränderte die Situation in den kommenden zehn Jahren dramatisch. Der Historiker Maximilian Lanzinner kommt zu dem Schluss: „Die Voraussetzung für die Integration in den Arbeitsmarkt bildete die Konjunktur der 50er Jahre.“ Bereits 1948 (!) waren nur mehr 7,1 Prozent der Neubürger in Bayern arbeitslos. Die Vertriebenen packten tüchtig mit an, manche Bauern nützten die Not der Flüchtlinge aber auch kräftig aus. Sie beschäftigten sie als billige Hilfskräfte, die etwas Brot und Fleisch bekamen, aber keinen Lohn erhielten. Die Sozialstruktur der Vertriebenen veränderte sich gezwungenermaßen. Da zum Beispiel frühere selbstständige Landwirte ihren alten Beruf nicht mehr ausüben konnten, mussten sie sich als Arbeiter verdingen. Lanzinner analysiert daher: „Die wirtschaftliche Integration bezahlten also die Flüchtlinge mit einer Verschlechterung der beruflichen Stellung.“ Jedoch gelang es einigen Unternehmern ihre alten Firmen in der neuen Heimat wieder aufzubauen. Deshalb gab es 1954 in Bayern 954 Betriebe von Vertriebenen, in denen insgesamt 567000 Beschäftigte arbeiteten. In einigen Teilen Bayerns entstanden auch richtige Flüchtlingssiedlungen, erwähnt seien hier Neutraubling bei Regensburg, Neugablonz, Geretsried oder Bubenreuth.

Viel zur Entspannung trug natürlich auch der Lastenausgleich bei. Nach den Nothilfen der ersten Jahre trat das Ausgleichsgesetz am 1. September 1952 in Kraft. Insgesamt flossen 13,6 Milliarden Mark nach Bayern, da es in Bayern prozentual mehr Flüchtlinge gab als in anderen Ländern, profitierte der Freistaat von diesen Zahlungen in der Gesamtrechnung. Die realen Vermögensverluste waren mit diesen Geldern natürlich bei weitem nicht auszugleichen, aber sie gaben vielen Vertriebenen doch zum Beispiel eine Anschubfinanzierung für einen Hausbau.

Auf der Seite der Einheimischen herrschten dagegen oft übertriebene Vorstellungen von den Zahlungen, die die Neubürger erhielten. Da die Abgaben zu Gunsten des Lastenausgleichs über einen längeren Zeitraum liefen, konnten sie weitgehend aus laufenden Einnahmen und Vermögenserträgen der Nichtgeschädigten finanziert werden – es gab daher keinen massiven Widerstand von Seiten der Betroffenen.

In den ersten Nachkriegsjahren verhinderte die US-Besatzungsmacht den politischen Zusammenschluss der Vertriebenen. Man wollte verhindern, dass sich Gruppen bildeten, die aggressiv die Vertreibung kritisierten. So wurde zunächst nur der Aufbau von Landsmannschaften geduldet, die das kulturelle Erbe der Heimatvertrieben pflegen sollten. Als das Parteiverbot allerdings 1950 fiel, wurde auch in Bayern der BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) gegründet, der bei den Landtagswahlen im November auf Anhieb zur viertstärksten Kraft in Bayern wurde. Bis 1962 gehörten Vertreter des BHE der Staatsregierung an. Von 1954 bis 1962 war zum Beispiel der Sudetendeutsche Walter Stain Arbeitsminister, in seinen Geschäftsbereich fielen auch viele Fragen der Integration der Vertriebenen. Allerdings verlor der BHE von Wahl zu Wahl Stimmen, 1962 schaffte die Partei nicht mehr den Sprung in den Landtag. Viele Parteimitglieder gingen zur CSU und SPD, die bereits zuvor immer auch um Flüchtlingsstimmen geworben hatten. So galt die bayerische SPD lange als ein Sammelbecken vertriebener böhmischer Sozialdemokraten. Ihr langjähriger Landesvorsitzender ab den 60er Jahren, Volkmar Gabert, stammte aus Teplitz-Schönau.

Kulturgrenzen verschwanden

Die Auflösung des BHE war eine Folge der immer mehr fortschreitenden Integration der Vertriebenen. Man blieb nicht unter sich, man wollte dazu gehören. Von Anfang an überwogen die Eheschließungen mit Einheimischen, die naturgemäß die Stammes- und Kulturgrenzen verschwinden ließen. 1954 verkündete Ministerpräsident Hanns Ehard auf dem Sudetendeutschen Tag die Schirmherrschaft des Freistaates über die Volksgruppe. Seitdem spricht man oft vom „vierten Stamm“ neben Altbayern, Franken und Schwaben. Fakt ist aber auch, dass die eingangs hoch gelobte Integration der Vertriebenen eine wohl unvermeidbare Folge hatte: Mehr und mehr gingen in den vergangenen Jahrzehnten viele kulturelle Eigenheiten der Sudetendeutschen mit der Generationenfolge unter, erinnert sei nur an Mundarten, Sitten und Bräuche. Das stimmt bei aller Freude über die gelungene Eingliederung doch auch im Rückblick traurig.

Buchtipp: Maximilian Lanzinner: „Zwischen Sternenbanner und Bundesadler. Bayern im Wiederaufbau.“ 439 Seiten, Pustet Verlag Regensburg, 29.90 Euro.