Gesundheit
Die Magersucht loslassen

In einer Regensburger Wohngruppe werden essgestörte Mädchen behandelt. Einige hungerten zuvor, bis sie künstlich ernährt werden mussten.

05.07.2012 | Stand 16.09.2023, 21:02 Uhr
Juliane Pfordte

Jede Mahlzeit ist für Magersüchtige eine Qual. Die Krankheit „Ana“ (abgeleitet von Anorexia nervosa) redet ihnen ein schlechtes Gewissen ein. Foto: Pfordte

. Luisa (Name geändert) war 13 Jahre alt, als sie ihrem Hungergefühl den Kampf ansagte. Sie begann abzunehmen, denn sie wollte perfekt sein, sie wollte Kontrolle. Die Zahl auf der Waage schmolz und mit ihr die Anzahl der Freunde, doch „Ana“ gab ihr Kraft. Heute, nach mehreren Klinikaufenthalten und Therapien weiß sie, dass Ana die Krankheit „Anorexia nervosa“ (Magersucht) war, Freundin und Feindin zugleich. Bei INES, der einzigen intensivtherapeutischen Wohngruppe für Mädchen mit Essstörungen in Ostbayern, lernt Luisa, die Magersucht loszulassen und ihr Leben wieder selbst zu bestimmen.

Es ist ein heißer Sommertag, als die Mädchen von INES in der großen Wohnküche zum Mittagessen eintreffen. Ein ungewöhnlich süßlicher Geruch liegt in der Luft, ein paar Duftkerzen zieren das Fensterbrett. Acht der neun Mädchen hier leiden an Magersucht, eine an Bulimie, der sogenannten Ess-Brech-Sucht.

Verbotene Lebensmittel zum Mittag

Tortellini in Sahnesauce stehen heute auf dem Speiseplan. Zum Nachtisch gibt es Eis. Für Luisa sind das verbotene Lebensmittel, denn sie hat Angst, davon unendlich zuzunehmen. Aber bei INES muss sie essen. Nur so kann sie die Magersucht besiegen. Seit drei Monaten lebt die 16-Jährige hier, in einem großen Haus mit Garten. Alle zwei Wochen darf sie nach Hause fahren. Über das Essen wird nicht diskutiert, das ist eines der „10 Essensgebote“, die auf einem großen Plakat an der Küchenwand hängen. Auf einer kleinen Tafel daneben steht mit Kreide geschrieben: „Herz nimm Abschied und gesunde“.

Luisa hat wie die meisten Mädchen bei INES mehrere Klinikaufenthalte hinter sich. Sie hungerte, bis sie künstlich ernährt werden musste. Dabei hatte vor drei Jahren alles „spielerisch“ angefangen: Tagsüber nichts essen, abends ordentlich reinhauen. Dick war Luisa nie, sie war Leistungsturnerin, später begann sie eine Tanzausbildung. Als die ersten Kilos purzelten, sie Komplimente und Aufmerksamkeit bekam, fühlte sie sich gut. Doch irgendwann wurde das Kalorienzählen zwanghaft.

Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen leiden etwa 0,3 Prozent der jungen Frauen an Magersucht. Sie sind fast zehnmal so häufig betroffen wie Männer. Etwa jede zehnte Magersüchtige stirbt, durch Selbstmord oder an den Folgen der Krankheit.

Eine halbe Stunde „Sitzzeit“

Quietschend kratzt Luisa mit der Gabel über ihren Teller. Ihre Tortellini hat sie in viele kleine Stücke geschnitten. Sie kaut vorsichtig und redet viel, vor allem beim Essen. Bei INES steht sie permanent unter Kontrolle. Nach dem Essen haben die Mädchen eine halbe Stunde „Sitzzeit“, damit sie nicht erbrechen und ein Teil des Essens verdaut ist.

Mittlerweile kennen die Betreuer die Tricks der Mädchen: Butter unter den Tisch oder in die Haare schmieren und das Brot in der Kleidung verschwinden lassen. Doch sie verstehen die große Not dahinter: „Die Mädchen haben Angst davor, die Magersucht aufzugeben, vor der großen Leere, wenn die Krankheit nicht mehr da ist“, sagt Gruppenleiterin Indrani Sarkar-Kober später, als sie in ihrem Büro die wöchentliche Gruppenaktion plant. Von den Mädchen wird sie „Drani“ genannt. „Eine Familie, in der sich jemand zu Tode hungert, funktioniert nicht mehr“, sagt die 36-Jährige. Oft stecke der Wunsch dahinter, endlich „gesehen“ zu werden.

Während des Mittagessens läuft im Radio leise Musik. Die Mädchen wippen mit den Köpfen im Takt und kichern vorsichtig. Auch wenn Luisa äußerlich strahlt, kämpft sie innerlich mit einer leisen Stimme, mit Ana. Die Magersucht, die sie wie viele Betroffene als Freundin beschreibt, gab ihr jahrelang das Gefühl von Sicherheit. Kontrolle über ihr Gewicht war Kontrolle über ihr Leben. Zuhause gab es oft Streit, der Vater beachtete sie nie. Anstatt mit Freunden wegzugehen, berechnete sie Kalorien, schaute Kochsendungen oder aß Taschentücher, um das Hungergefühl zu besiegen.

Wenn Luisa Ana malen müsste, wäre sie ein hübsches, nettes Mädchen mit langen Haaren, erzählt die 16-Jährige, als sie nach der Sitzzeit hinauf in ihr Zimmer geht. Auf dem Fensterbrett stehen neben liebevoll aufgestellten Parfümfläschchen, Deosprays und Lippenstiften einige Fotos von früher. Eins zeigt sie mit ihrer Tanzgruppe. Auf dem Bild wirkt sie müde, ihr Lächeln zieht Falten in das zarte Gesicht.

„Ana“ ist stolz, wenn man nicht isst

Es ist Hausaufgabenzeit. Im Schneidersitz hockt Luisa auf ihrem Bett, ihre Beine wippen. Ihren Haargummi wickelt sie verspielt um ihre schlanken Finger. „Die Krankheit verstehe einen immer. Sie ist stolz auf einen, wenn man als Einzige aufs Essen verzichtet“, erzählt die 16-Jährige. Auch wenn Essstörungen in jeder Altersstufe auftreten können, beginnen sie häufig in der Pubertät. Heute weiß man, dass die Magersucht keine rein psychische Krankheit ist. „Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Veranlagung für eine Essstörung vererbt werden kann“, sagt Prof. Dr. Stefan Ehrlich vom Uniklinikum Dresden. Er leitet dort den Bereich für essgestörte Kinder und Jugendliche. Für seine Forschungsarbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. „Durch das Untergewicht verändert sich das Gehirn. Es wird kleiner, was zum Beispiel die Intelligenz beeinträchtigt, und die Wahrnehmung der Betroffenen verändert“, erklärt Ehrlich im Gespräch mit der MZ. Sobald die Magersüchtigen zunähmen, würde das Gehirn aber wieder seine Ausgangsleistung erreichen. Gewichtszunahme sei die beste Medizin und mit einem vielfältigen Therapieplan durchaus erreichbar. Medikamente, deren Wirkung spezifisch für die Magersucht eindeutig nachgewiesen sei, gebe es ohnehin nicht.

Nach ihrer Therapiestunde am Nachmittag hat Luisa heute „Ausgang“. Sie möchte noch eine „ZM“ kaufen, eine der drei verpflichtenden „Zwischenmahlzeiten“. Noch vor ein paar Wochen machte Luisa ihre Hausaufgaben im Stehen, rannte von einer Zimmerecke zur anderen oder legte sich strampelnd aufs Bett – alles, um Kalorien zu verbrennen. Der Bewegungsdrang ist ein typisches Symptom der Magersucht.

Der Abschied von Ana ist schwer

Auch wenn Luisa heute fast wieder Normalgewicht hat, vermisst sie Ana noch ab und zu. „Ich frage mich oft, warum ich jetzt nicht mehr so dünn bin wie damals“, sagt sie und schaut nachdenklich aus dem Fenster. In den Händen hält sie ihre Ballettschuhe. Die Tanzausbildung musste sie unterbrechen, ein Schuljahr wiederholt sie gerade. Freundschaften sind zerbrochen, weil die Eltern von Freunden sie für falschen Umgang hielten.

Luisa hat beschlossen, Ana Lebewohl zu sagen. Später will sie Tänzerin werden, sagt sie und nickt entschlossen. Mit einem verschmitzten Lächeln hüpft sie vom Bett, schnappt sich ihre Handtasche und macht sich auf den Weg zum Einkaufen – wieder ein Schritt zurück in ein normales Leben.