Ein Fenster ins Leben aufmachen

26.03.2010 | Stand 26.03.2010, 14:08 Uhr

Ein Suizidversuch stürzt Angehörige in eine Schockstarre. Denn der Entschluss eines nahen Angehörigen oder Bekannten, nicht mehr leben zu wollen, setzt alle gewohnten Maßstäbe außer Kraft. Noch unerträglicher ist die Selbstmordabsicht bei Kindern und Jugendlichen, die unter schweren Depressionen leiden. Auswege aus der psychischen Erkrankung können gezielte Therapieformen bieten. Interview mit Dr. Sabine Schlippe-Weinberger, Autorin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Erbendorf.

Frau Dr. Schlippe-Weinberger, Sie behandeln seit 1977 Kinder und Jugendliche mit psychologischen Verhaltensstörungen. Stellen Sie einen Trend fest?

Schlippe-Weinberger: Oh ja, es gibt verschiedene Trends. Einmal die Zunahme an Kindern mit einer ADS bzw. ADHS -Symptomatik (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität), die Zunahme an Essstörungen und die Zunahme an selbstverletzendem Verhalten, z. B. Ritzen. All diese Symptome können auch Ausdruck einer depressiven Erkrankung sein, was man auf den ersten Blick vielleicht gar nicht vermuten würde.

Wie erleben Kinder und Jugendliche mit depressiven Verstimmungen ihre Welt?

Schlippe-Weinberger: Die Kinder und Jugendlichen haben keine Lebensfreude, sie fühlen sich dem Leben gegenüber hilflos ausgeliefert und wertlos. Sie haben den Kontakt zur sogenannten Selbstwirksamkeit, damit ist gemeint, dass man selbst etwas bewirken kann, entweder verloren oder diese Selbstwirksamkeit überhaupt nicht ausreichend aufbauen können.

Welche Beobachtungen machen die Eltern der Betroffenen?

Schlippe-Weinberger: Die Kinder bzw. Jugendlichen wirken häufig traurig, bedrückt, desinteressiert und ziehen sich von den Freunden zurück. Dazu kommen Schlafstörungen. Bei Kindern zeigen sich auch oft somatische Beschwerden, z. B. Bauch- oder Kopfschmerzen ohne organische Ursachen. Die Kinder haben keine Freude am Spielen mehr. Jungen zeigen oft auch ein aggressives Verhalten, jugendliche Mädchen ritzen sich.

Welche Symptome sind auffällig?

Schlippe-Weinberger: Da muss man sehr genau zwischen Kindern und Jugendlichen und auch zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Bei Kindern äußert sich eine Depression neben der traurigen Grundstimmung, dem sozialen Rückzug und der Spielunlust oft auch in körperlichen Beschwerden. Fast immer findet sich ein Leistungsabfall in der Schule. Bei jugendlichen Mädchen sind es auch wieder die Traurigkeit, der soziale Rückzug, Schlafstörungen, massive Selbstwertzweifel und Essstörungen und/oder ein sich selbst Verletzen z. B. durch Ritzen der Arme und /oder Beine. Dazu kommt bei Jugendlichen die Beschäftigung mit dem Tod und konkrete Suizidversuche. Bei Jungen kann sich, wie schon gesagt, auch hinter einem aggressivem Verhalten eine Depression „verstecken“. Die kehren ihre Verzweiflung sozusagen nach außen.

Wann ist eine Verhaltensauffälligkeit krankhaft, wann noch normal?

Schlippe-Weinberger: Zwischen Normalität, die ja auch immer gesellschaftlich definiert ist, und Krankheit gibt es fließende Übergänge. Entscheidend ist das Ausmaß, die Ausprägung und - wie in einem Puzzle - das Zusammenspiel mit anderen Verhaltensweisen. Wenn ein Kind nach einem einschneidenden Lebensereignis, wie z. B. dem Verlust von Freunden durch einen Umzug oder der Trennung der Eltern, vorübergehend traurig ist und sich zurückzieht, dann ist es noch keine Depression. Wenn dies aber andauert und bei Kindern z. B. Bettnässen oder über eine längere Zeit körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen dazukommen, dann ist von einer Erkrankung auszugehen, die behandelt werden sollte. Bei Jugendlichen ist es ähnlich, vorübergehender sozialer Rückzug, Selbstwertzweifel und auch ein Leistungsabfall in der Schule sind oft Teil der ganz normalen pubertären Entwicklung. Wenn dies aber dazu führt, dass der oder die Jugendliche gar nicht mehr aus dem Haus geht oder gar nicht mehr zur Schule geht, dann sind das absolute Alarmzeichen.

Bei Erwachsenen nimmt das Krankheitsbild der Depression zu. Wie steht es um die jungen Menschen?

Schlippe-Weinberger: Bei Kindern und Jugendlichen nehmen Verhaltensauffälligkeiten eindeutig zu, dazu gehören auch depressive Entwicklungen.

Worunter leiden die betroffenen Kinder und Jugendlichen bzw. was ist heute anders, als bei der Generation vor uns?

Schlippe-Weinberger: Es gibt mehrere Veränderungen, die sich in ungünstiger Weise aufsummieren können. Um nur einige zu nennen: wir leben in einer immer härter werdenden Leistungsgesellschaft, der damit einhergehende Leistungsdruck wirkt sich in vielen Bezügen auf die Kinder und Jugendlichen aus. Schauen Sie sich nur einmal an, wie viele Lernzielkontrollen bereits im ersten Halbjahr in der 1. Klasse geschrieben werden und welche Anforderungen da an die Kinder gestellt werden. Das ist überhaupt nicht mehr vergleichbar mit dem, was früher von den Kindern in den ersten Schulmonaten verlangt wurde. In den höheren Klassen und besonders auch im derzeitigen Gymnasium setzt sich das dann fort. Dazu kommt die Medienwelt, die rein zeitlich das freie Spielen reduziert. Beim Spielen erholt sich das Kind körperlich - Spielen ist gewöhnlich mit Bewegung verbunden, nicht mit Stillsitzen - und seelisch, da im Spiel immer auch Erlebnisverarbeitung stattfindet. Stattdessen dringen äußere Eindrücke in Bild und Ton immer früher und ungefilterter in den Kinderalltag ein, ohne dass die Kinder dann die Zeit haben, dies im Spiel, im Kindergarten oder in der Schule aufzuarbeiten. Ein weiterer Faktor ist die zunehmende Anzahl von Trennungen und Scheidungen, d.h., die Auflösung tradierter Lebensformen. Die Eltern sind in der Trennungsphase und auch danach häufig so überfordert, dass sie den Kindern nicht den familiären Rückhalt geben können, die diese für die Anforderungen heute brauchen.

Wenn Kinder einen Suizidversuch unternehmen, ist das für die Familie kaum mehr erträglich. Wie kann es so weit kommen und was muss nachfolgend geschehen?

Schlippe-Weinberger: Bei Kindern sind Suizidversuche zum Glück immer noch eher selten, der Lebenswille ist trotz allem noch sehr stark. Ganz anders bei Jugendlichen, da ist der Suizid eine große Gefahr. Es ist das Gefühl, in seinem Leid nicht gesehen und verstanden zu werden, es selber nicht zu verstehen und nicht mehr daran zu glauben, dass es noch jemals besser werden wird, was Jugendliche dann einen Suizidversuch unternehmen lässt. Das können Eltern in dieser Dramatik oft nicht vorhersehen, wichtig ist, dass ein Suizidversuch immer sehr ernst genommen wird und nachfolgend eine fachliche Hilfe aufgesucht wird.

Wie gehen Sie in Ihren Therapien vor, worauf kommt es Ihnen an?

Schlippe-Weinberger: Kinder erhalten bei mir eine spieltherapeutische Behandlung. Es ist für mich immer wieder ein Wunder, wie glasklar Kinder ihre Probleme im Spiel in Szene setzen können, um diese dann so zu bearbeiten, dass es zu einer deutlichen Veränderung in ihrem Erleben und Verhalten bzw. zu einer Heilung kommt. Bei Jugendlichen ist es das Wichtigste, einen Zugang zu ihnen zu finden, so dass sie freiwillig, d. h. selbstbestimmt kommen, weil sie das Gefühl haben: es bringt mir etwas. Dazu ist es notwendig, ihnen als erstes als authentische Person zu begegnen, die versucht, ihre innere Welt zu verstehen. Dann ist es wichtig, Ausdrucksmittel bereit zu halten, damit der Jugendliche mit mir und dann mit sich in Kontakt kommen kann. Dazu eignet sich in einem ersten Schritt alles, woran der bzw. die Jugendliche Interesse hat: Zeichnen, Malen, Musik hören und/oder spielen, Gespräche, aber auch Tischtennis spielen oder einen Video-Film zu einem bestimmten Thema drehen. Um bei der Hausmetapher zu bleiben: erst wenn die Tür in die innere Welt etwas geöffnet wurde, kann in weiteren Schritten daran gearbeitet werden, ein Fenster ins Leben zu öffnen. Dies ist immer ein einzigartiger Entwurf, da jeder etwas anderes dazu braucht und Tür und Fenster unterschiedlich fest verschlossen sind.

Können depressive Erkrankungen geheilt werden?

Schlippe-Weinberger: Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen sehr klar, dass eine depressive Erkrankung geheilt werden kann. Wie schnell das geschieht und wie groß die Gefahr einer erneuten Erkrankung zu einem späteren Zeitpunkt ist, das hängt jedoch ganz vom Einzelfall ab. So ist eine langfristige Heilung unter anderem davon abhängig, was zum einen alles zu der Erkrankung beigetragen hat und was zum anderen gegenüber diesen Risikofaktoren an Schutzfaktoren vorhanden ist. So macht es einen Unterschied, ob ein Kind schon sehr früh massiv vernachlässigt wurde oder ob erst später z. B. ein Verlusterlebnis eintrat. Auch die familiäre Disposition, die jemand mitbringt, d. h., inwieweit Familienmitglieder an einer Depression erkrankt sind, spielt eine Rolle. Und bei Kindern und Jugendlichen natürlich ganz entscheidend, inwieweit das unmittelbare Umfeld an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung beteiligt ist. Manchmal müssen Kinder oder Jugendliche aus dem Umfeld herausgenommen werden, um eine Heilung möglich zu machen.

Wann raten Sie zu einer medikamentösen Behandlung?

Schlippe-Weinberger: Man unterscheidet bei Depressionen leichte, mittelgradige und schwere Depressionen. Bei mittelgradigen Depressionen kann eine begleitende medikamentöse Unterstützung im Einzelfall sehr hilfreich sein, bei schweren Depressionen ist sie absolut notwendig. Die medikamentöse Behandlung führt erst einmal zu einer Stabilisierung, d.h. beispielsweise, der oder die Jugendliche kann wieder schlafen und hat wieder mehr Antrieb. Auf dieser Grundlage kann dann die psychotherapeutische Behandlung aufbauen.

Welche Schwierigkeiten gibt es dabei?

Schlippe-Weinberger: Wenn nur eine medikamentöse Behandlung erfolgt, dann sehe ich die Schwierigkeit darin, dass der oder die Jugendliche lernt, sich eine bessere Stimmung per Tablette, sprich Droge, zu holen. Das ist einfach, verändert die Stimmung, aber in seiner Persönlichkeitsentwicklung, um die es ja gerade in dem Alter geht: - wer und wie bin ich?-, bringt es den Jugendlichen nicht weiter. Er lernt sich damit nicht besser kennen und lernt keine Bewältigungsstrategien, um jetzt und später mit auftretenden Problemen besser fertig zu werden. Wenn jedoch begleitend eine psychotherapeutische Behandlung erfolgt, in der der Jugendliche lernt, sich selbst besser zu verstehen und sein Selbstwertgefühl und seinen individuellen Weg wieder zu finden, dann können Medikamente, wie schon erwähnt, besonders am Anfang eine große Unterstützung sein und bei schwereren Depressionen sind sie unabdingbar.

Phänomen Ritzen: Warum verletzten sich Kinder und Jugendliche?

Schlippe-Weinberger: Das Ritzen betrifft hauptsächlich weibliche Jugendliche. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig und vielschichtig. Es geht darum, sich intensiv zu spüren, wenn man sich sonst kaum noch spürt. Bei manchen Jugendlichen geschieht es auch aus einer Art Selbsthass, um sich zu bestrafen. Traumatisierte Jugendliche haben einen dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel, Cortisol ist ein sogenanntes Stresshormon. Sie kommen durch spezielle Erinnerungsreize immer wieder in einen derartig hohen Erregungszustand, dass sie den dann oft nur durch Ritzen wieder „runterschalten“ können. Und nicht zuletzt spielt auch der Zeitgeist eine Rolle, d. h., teilweise ritzen sich auch Jugendliche, die nicht krank sind, weil eine gewisse Dramatik und ein starker Drang zur Nachahmung zur Pubertät gehören. Diese Jugendlichen zeigen aber sonst gesunde Verhaltensweisen und hören von sich aus mit dem Ritzen wieder auf.

Wie sollen Eltern, Lehrer oder Angehörige reagieren?

Schlippe-Weinberger: Eltern und Angehörige sollten die bedrückte Stimmung und die bereits aufgeführten Symptome bemerken. Kindern sollten sie sagen, dass sie sich Sorgen machen und deshalb zu jemanden gehen wollen, der sich gut mit Kindern auskennt und weiß, wie man Kindern, die oft traurig sind und nicht mehr spielen wollen, helfen kann. Bei Jugendlichen geht es in erster Linie darum, mit dem Mädchen oder dem Jungen ins Gespräch zu kommen, um sich dann gemeinsam um eine fachliche Hilfe zu bemühen. Dies ist oft ein längerer Prozess, da Jugendliche in erster Linie alleine zu recht kommen wollen. Lehrer sollten bei Kindern die Eltern ansprechen und sagen, was ihnen an Stimmungsveränderung und Verhaltensveränderungen aufgefallen ist. Bei Jugendlichen sollten sie zuerst mit dem Jugendlichen selbst reden. Jugendliche sind oft der Hilfe gegenüber sehr ambivalent: einerseits wünschen sie sich, dass jemand bemerkt, wie schlecht es ihnen geht, andererseits wollen sie bloß nicht auffallen und auch nicht zum „Fall“ gemacht werden oder gar als „verrückt“ gelten. Das erfordert von Eltern und Lehrern viel Fingerspitzengefühl, Geduld und Beharrlichkeit, den Jugendlichen zu überreden, sich helfen zu lassen. Bei akuter Suizidalität ist natürlich immer sofortiges Handeln, auch gegen den Willen des Jugendlichen, erforderlich.

Kinder und Jugendliche können ihre depressiven Verstimmungen schwer einordnen. An wen sollten Sie sich wenden, um Hilfe zu bekommen?

Schlippe-Weinberger: Kinder und Jugendliche sollten sich an den wenden, bei dem sie sich am besten aufgehoben fühlen, von dem sie annehmen, dass sie verstanden werden. Das sind häufig die Eltern, das kann aber auch eine nahe Angehörige sein oder eine beste Freundin. Es geht in einem ersten Schritt darum, sich jemandem zu öffnen, um aus der erlebten Einsamkeit (“niemand sieht, wie schlecht es mir geht“) herauszukommen. Dann kann in einem zweiten Schritt mit der betreffenden Person überlegt werden, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt oder auch erst mal, wem man sich als nächstes noch anvertrauen kann.

Welche Anlaufstellen gibt es für Eltern und Angehörige?

Schlippe-Weinberger: In unserer Region gibt es mehrere Anlaufstellen. Zum einen die Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulanz, die es in Weiden und Amberg gibt. Darüber hinaus sind alle niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten dafür zuständig (die Adressen bekommt man von der Krankenkasse), wie auch die Erziehungsberatungsstellen, die sich mit der Erkrankung gut auskennen und gegebenenfalls weiter verweisen. Es kann auch der Kinder- und Jugendarzt bzw. der Hausarzt die erste Anlaufstelle sein, wenn das Kind oder der Jugendliche diesen Arzt kennt und Vertrauen hat. Nach einer körperlichen Untersuchung wird dieser dann eine Adresse für eine psychodiagnostische Abklärung bzw. psychotherapeutische Hilfe nennen.