Biografie
Ein Guckloch ins Leben vor 200 Jahren

Johann Leonhard Seyboth lebte im 19. Jahrhundert in Regensburg. Seine Enkelin Christine Hammerbacher übertrug seine Tagebücher ins Moderne.

08.08.2014 | Stand 16.09.2023, 7:16 Uhr
Angelika Lukesch

Christine Hammerbacher (87) hat die Lebenserinnerungen des Regensburger Seilerwarenfabrikanten Johann Leonhard Seyboth für die Nachwelt bewahrt.

Zum Besuch der Reporterin der Mittelbayerischen Zeitung hat Christine Hammerbacher (87) all das, was von ihrem Großvater Johann Leonhard Seyboth (1850-1920) geblieben ist, auf dem Tisch ausgebreitet. Einige lose Fotos, ein kleines Fotoalbum und eine dunkelgrüne Schachtel mit goldener Aufschrift „Lebenslauf des Johann Leonhard Seyboth/vormaliger Seilerwarenfabrikant und Magistratsrat/jetzt Rentner in Regensburg/1919“.

Diese Schachtel birgt einen etwa fünf Zentimeter hohen Stapel fein säuberlich handbeschriebenen Papiers, gebunden in Hefte von etwa zehn Seiten. Es sind die Lebenserinnerungen des Johann Leonhard Seyboth, eines hoch geachteten Regensburger Bürgers, seines Zeichens Inhaber der Seilerei an der Keplerstraße und Magistrat.

Der Nachwelt bewahren

Christine Hammerbacher lebt mit ihrer Familie in Neumarkt in der Oberpfalz, ihre Mutter Frieda, Tochter des Johann Leonhard Seyboth, hatte ihr die Lebenserinnerungen des Vaters anvertraut. „Meine drei Kinder drängten mich, dass ich diese Schriftstücke für die Nachwelt bewahren sollte. Es ist alles in Sütterlin-Schrift geschrieben und es gibt nur wenige Menschen, die dies noch lesen können, zumal wenn es sich um Handschrift handelt“, erzählt Hammerbacher.

Um dieses Werk beginnen zu können, erlernte sie das Schreibprogramm „Word“ und setzte sich daran, die eng beschriebenen und schwierig zu entziffernden Niederschriften ihres Großvaters vom Papier auf die Festplatte eines Computers zu übertragen. „Ich habe länger als ein halbes Jahr gebraucht, um alles zu entziffern und abzuschreiben“, sagt Hammerbacher.

Die Arbeit sei es ihr jedoch wert gewesen, denn diese Lebenserinnerungen würfen Licht auf eine vergangene Zeit mit Gesellschaftsformen, Lebensphilosophien, Alltags- und Wirtschaftsleben, die zum Teil sehr antiquiert anmuten, zum Teil jedoch auch von durchaus moderner Lebensart, vor allem jedoch von vorwärts strebender Firmenstrategie zeugen.

Der Vater des Autobiografen war Anfang des 19. Jahrhunderts von Schwäbisch Hall nach Regensburg gekommen und hatte dort eine Seilerei gegründet. Seine Söhne Fritz und Johann Leonhard Seyboth hatte er von klein auf dazu erzogen, später den Betrieb zu übernehmen und fortzuführen. Eine gute Ausbildung, unter anderem an der Lateinschule, gehörte dazu wie auch das Lernen des Handwerks.

Reisen zu Studienzwecken

Nicht zuletzt dienten für damalige Verhältnisse ausgedehnte Reisen in Firmenangelegenheiten dazu, einesteils die Firmenkontakte zu pflegen oder neue zu knüpfen, anderenteils die modernsten Errungenschaften des Seilerhandwerks kennenzulernen. Auch der Weltausstellung in Paris im Jahr 1867 stattete Seyboth mit Vater und Bruder einen Besuch ab. Kritisch berichtet er, dass Regensburger Firmen, wie die Firma Pustet, sich nicht auffällig genug präsentiert hätten, um in der Menge der Aussteller hervorzustechen. Man müsse unbedingt „prunken“, meinte Seyboth, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ein weiterer Nebeneffekt der Reisen, die er zu (Firmen)-Studienzwecken unternahm, war die Weltläufigkeit, die er dabei errang. Seyboth berichtet vom gesellschaftlichen Leben zu seiner Zeit, davon, wie ein korrektes Brautwerben auszusehen hatte und wie sich das Seilergewerbe entwickelte. Durch seine Beschreibungen kann der Leser ganz nebenbei einen Blick auf die Straßen und Plätze im Regensburg des 19. Jahrhunderts erhaschen.

Protestant arbeitete am Dom mit

Christine Hammerbacher „arbeitete“ sich gewissenhaft durch das Leben ihres Großvaters und weiß dazu noch die eine oder andere interessante Geschichte zu erzählen. „Mein Großvater war Protestant. Zu der Zeit, als die Domtürme fertiggestellt wurden, (1859-1869, Anm. d. Verf.) kam es, dass es meinem Urgroßvater anvertraut wurde, die beim Domturmbau verwendeten Seile auf ihre Qualität und Haltbarkeit zu überprüfen, denn es hatte aufgrund eines minderwertigen Seils einen Unfall gegeben.“

„Die Aufgabe, die Seile zu überprüfen, hat dann mein Großvater Seyboth übernommen. Wenn es etwas zu beanstanden gab, dann durfte die Firma Seyboth die beanstandeten Seile ersetzen. So kam es, dass auch die Protestanten bei der Fertigstellung der Domtürme an einer wichtigen Stelle beteiligt waren“, erzählt Hammerbacher. Als sie mit der Übertragung der Lebenserinnerungen ihres Großvaters fertig war, fasste ihr Enkel Christoph zusammen mit seinem Bruder Andreas einen Plan.

Heimlich ließen sie aus der Word-Datei ihrer Großmutter ein Buch binden. Eine Freundin von Christoph fertigte Bleistiftzeichnungen, die als Illustrationen dienen und kongenial in Stil und Ausführung zu den Lebenserinnerungen des Johann Leonhard Seyboth passen: fein und detailliert, beschreibend und informativ, emotional, doch niemals pathetisch.

Ein Auszug aus Seyboths Tagebüchern

„Im Jahr 1867 fand die berühmte Weltausstellung in Paris statt, die der Vater, um die inzwischen in der Seilerei gemachten Fortschritte zu sehen, besuchen wollte und sich entschloss, seine beiden ältesten Söhne mitzunehmen. Mein Bruder Fritz konnte die französische Sprache fließend sprechen und war deshalb der Dolmetscher für uns. Der Ausstellungsplatz war für damals geltend sehr umfassend. Der darauf erbaute Industriepalast hatte die Form einer Elypse. Er war in sechs Ringe eingeteilt, die radial wieder in Abteilungen geteilt waren. In diesen Abteilungen war viel Klimbim vertreten. Man sah wilde Völker in den von ihnen gebauten Zelten und Hütten, die ihr Treiben und ihre Tätigkeiten zeigten. Es waren auch Völkerschaften zu sehen, die Matten, lackierte Möbel und dergleichen fertigten.

In der Seilerei waren eigentlich besondere Fortschritte nicht zu sehen und hatte der Vater in dieser Richtung seine Absicht nicht erreicht… Unsere Bleistiftsfabrik J. J. Rehbach und die große Firma Pustet, Erstere mit einer Collektion Blei-und Farbstiften, Letztere mit Messbüchern in reicher Ausstattung, waren die einzigen Vertreter der industriellen Tätigkeit unserer Vaterstadt. Sie mussten aber zuvor nicht gesehen haben, wie man ausstellen und prunken muss, um ins Auge zu fallen. Diese Fabriken, die beide unbestritten Weltruf hatten, stellten viel zu klein und unansehnlich aus. Ihr Arrangement konnte in keiner Weise imponieren. Der Besuch der Ausstellung war ein eminenter. Man hörte Sprachen aus allen Ländern der Erde. Der Eintritt war sehr billig und kostete die Passepartoutkarte mit 14-tägiger Dauer nur fünf Franken. Wir besuchten die Ausstellung fleißig und brauchten 14 Tage, bis wir durch alle Räume kamen...“