Es ist das Jahr 1979. Franz Josef Strauß ist zum Kanzlerkandidaten der Union ernannt worden. Er soll gegen Helmut Schmidt (SPD) antreten. In der CDU/CSU ist man geteilter Meinung. Auch in Bayern gibt es Widerstand. Der zeigt sich augenscheinlich in signalroten, einem Verkehrszeichen nachempfundenen Plaketten mit der Aufschrift „Stoppt Strauß“. Das Tragen dieser Meinungsäußerung wird Mode. Auch Christine Schanderl, damals 18 Jahre alt und Schülerin am Albertus-Magnus-Gymnasium in Regensburg, trägt den Button. Aber bei ihr ist es nicht der Gruppenzwang, sondern eine innere Überzeugung. Und dafür kämpft sie.
„Regensburger Schülerin vom Gymnasium gefeuert“, so lautete am 17. Juli 1980 die Schlagzeile der Mittelbayerischen Zeitung auf der „Bayernseite“. Es war der vorläufige Höhepunkt in einer aufgeheizten Debatte. Es war auch einer der Momente, die Christine Roth, wie sie nach ihrer Heirat heißt, persönlich trafen. „Schanderl, Sie verlassen jetzt sofort das Schulgelände, sonst rufe ich die Polizei und erstatte Anzeige wegen Hausfriedensbruchs“, sagte ihr der damalige Schulleiter des Albertus-Magnus-Gymnasiums, als er ihr die Entlassung aushändigte. „Dieses Nachtreten, diese persönlichen Gemeinheiten, es gab einige wenige solche Momente, die mich traurig gemacht haben“, sagt Christine Roth, die heute eine Kanzlei mit Schwerpunkt Arbeitsrecht in Nürnberg führt, im Gespräch mit der MZ. In der Sache selbst war sie sich immer sicher. „Die Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht und steht höher als irgendeine Verordnung aus dem Kultusministerium.“ Letztlich war das Ganze auch ein Ansporn für sie, sich im Studium besonders anzustrengen, um gute Noten zu erreichen. „Ich wusste, dass es bei meinen Aktivitäten im Anti-Strauß-Komitee wohl nichts mit dem Staatsdienst wird. Ich wollte ihnen aber nicht die Chance geben, dass sie das auf meine Noten schieben können.“ Christine Roth spielt dabei auf ihren Referandardienst an, den sie – trotz eines glänzenden Examens – entgegen der sonst gängigen Praxis nicht im Beamtenstatus absolvieren durfte. Später wurde auch versucht, ihre Anwaltszulassung zu torpedieren. Doch die junge Frau aus Regensburg ging unbeirrt ihren Weg – am Ende mit Erfolg.
Ethiklehrer brachte Stein ins Rollen
In ihrer Schreibtischschublade in der Kanzlei bewahrt sie immer noch die Stoppt-Strauß-Plakette auf. Über 30 Jahre ist es her, dass sie sich ihre politische Einstellung an die Bluse heftete. „Die Politik von Strauß war antidemokratisch. Er hat Diktatoren hofiert und sich vom Faschismus nie ausdrücklich distanziert. Besonders entsetzt war ich über seine Aussage, ein Volk, dass diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht habe, habe ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu müssen. Der Holocaust darf nie vergessen werden, nie. Ebenso unsäglich fand ich die ‚Ratten und Schmeißfliegen‘, als der er die Schriftsteller Luise Rinser und Bernd Engelmann beschimpfte. Das war Menschenverachtung.“
Monatelang ging die Schülerin mit dem Anstecker durch das Albertus-Magnus-Gymnasium, ohne dass sich irgendjemand daran störte. Bis der Ethiklehrer einen Blick auf Christines Bluse warf – und rot sah. Das war im April 1980. Der Lehrer ging mit ihr zum Direktor. Als die sich weigerte, die Plakette abzunehmen. folgten Disziplinarmaßnahmen. Verschärfter Verweis, Ausschluss vom Unterricht für zunächst zwei Wochen, danach die Androhung der Entlassung von der Schule und schließlich – am 17. Juli – der Rauswurf mit sofortiger Wirkung.
Dabei hatten sich, so steht es in den damaligen MZ-Berichten, zuvor noch über 100 Lehrer mit der Schülerin solidarisiert. Am Ende ging es um die Frage, ob Christine Schanderl mit dem Tragen der Stoppt-Strauß-Plakette „politische Werbung durch Wort, Schrift, Bild oder Emblem“ machte – was laut Schulordnung verboten war – oder ob der Button ein Ausdruck freier Meinungsäußerung war – was wiederum auch innerhalb des Schulgeländes als Grundrecht eines Menschen hätte akzeptiert werden müssen.
Heute kann sie auch mit CSUlern
Das Entscheidungsgremium kam zu der Auffassung, dass es sich um politische Werbung handelte. Der damalige Kultusminister Dr. Hans Meier stützte diese Haltung. Er sagte nach dem Rauswurf in der MZ: „Ich stehe voll und ganz zu dieser Entscheidung und halte sie für notwendig und richtig.“ Dagegen sprach die SPD von einer „skandalösen Maulkorbpolitik“. Auch in der Mittelbayerischen Zeitung lieferten sich wochenlang Leserbriefschreiber einen Schlagabtausch.
Christine Schanderl ging vor Gericht. Noch im selben Jahr kam das Verwaltungericht Regensburg zu der Auffassung, dass die Meinungsfreiheit als Grundrecht Vorrang vor einer Verwaltungsvorschrift hat. Die Regensburger Schülerin musste dies durch alle Instanzen bestätigen lassen, was der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zwei Jahre nach ihrer Schulentlassung tat. Inzwischen hatte Christine Schanderl das Abitur gemacht und ihr Jura-Studium an der Universität Regensburg begonnen – genau beobachetet vom bayerischen Verfassungsschutz.
Was würde sie nach all diesen Erfahrungen ihrem Sohn raten, wenn er ähnlich engagiert für seine Auffassung kämpfen würde? „Wenn es um das Thema Meinungsfreiheit ginge, würde ich rückhaltlos hinter ihm stehen. Man muss zu seinen Überzeugungen stehen, auch wenn einem der Wind um die Nase weht“, sagt Christine Roth. Ihr eigenes Elternhaus war konservativ und ihr Vater habe lange gebraucht, um ihre damalige Hartnäckigkeit in der Sache zu akzeptieren.
Obwohl sie als Schülerin die Politik von Strauß vehement ablehnte, finden sich heute in ihrem Freundeskreis auch einige CSU-Anhänger, erzählt die 50-Jährige. „Mir sind die menschlichen Werte wichtiger, Tolerenz, Achtung und Respekt voreinander. Ob dann jemand links oder eher konservativ denkt, spielt keine große Rolle. Rechtsextreme Ansichten natürlich ausgenommen.“
Mit ihrer Schule ist sie heute im Reinen. Als das Albertus-Magnus-Gymnasium 2005 sein 500-jähriges Bestehen feierte, wurde die einst rebellische Schülerin eingeladen. Mit ihrer Anwältin Hannelore Klar hielt sie den Festvortrag: „Der Papperlstreit als Musterfall der Rechtsgeschichte“.
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