Behandlung
Fettleibig: Der Weg ins neue Leben

Vor und nach der Magen-OP – zwei 140-Kilo-Patienten in Regensburg haben uns ihre Geschichte mit der Adipositas erzählt.

08.10.2016 | Stand 16.09.2023, 6:44 Uhr
Manchmal können übergewichtige Eltern mit ihren Kindern nicht mehr Schritt halten. Das brachte eine Mutter zum Umdenken. −Foto: dpa

Jeden Tag, wenn Josef Müller nach einer Stunde Brustschwimmen aus dem Becken steigt, kommen die Kilos zurück. Nur im Wasser kann er sich schmerzfrei bewegen, dort fühlt er sich leicht und wendig. Während er sich abtrocknet, glotzt ihn eine Gruppe Halbstarker unverhohlen witzelnd an.

„Wollt ihr ein Foto von mir machen? Dann könnt ihr mich die ganze Zeit ansehen.“

Meistens sind dem 45-Jährigen solche Situationen egal, an anderen Tagen lässt er sich zumindest nicht anmerken, wie sehr ihn dies verletzt, heute aber platzt ihm die Hutschnur. Er marschiert auf die frotzelnde Gruppe zu und fragt: „Wollt ihr ein Foto von mir machen? Dann könnt ihr mich die ganze Zeit ansehen.“ Verblüfft rechtfertigt sich einer der jungen Männer, dass Müller nicht gemeint gewesen wäre, ein anderer tut so, als wüsste er gar nicht, was los ist.

Drei Esslöffel passen in den Magen

Der 45-jährige LKW-Fahrer aus dem Raum Regensburg leidet unter Adipositas. Vor drei Monaten wurde er am Adipositaszentrum des Krankenhauses Barmherzige Brüder am Magen operiert. Er hat sich das Organ soweit verkleinern lassen, dass er nun gerade einmal noch ein Volumen von 100 Millilitern fasst. Das bedeutet, dass er jetzt bei einer Mahlzeit noch zwei Esslöffel Kartoffelbrei und dazu einen Esslöffel Schnitzelfleisch essen kann, bevor er satt ist. Dazu müssen jeden Tag zwei Liter Wasser durch den Minimagen und alle Nährstoffe, die eben zum Leben notwendig sind.

So kann Adipositas in Regensburg behandelt werden.

Die Operation ist notwendig geworden, weil Müller bis vor etwa vier Monaten 185 Kilo auf die Waage gebracht hat. Er bekam schlecht Luft und hatte derartige Probleme mit den Knien, dass er es vor einem Jahr nicht mehr ins Fahrerhäuschen seines Lasters schaffte. „Und wäre ich noch raufgekommen, dann eben nicht mehr runter“, sagt er. Seither ist er krankgeschrieben.

„Wollen Sie etwas wissen? Das ist mein Mann, deswegen kann ich ihnen Antworten geben. Er hat Übergewicht und darunter ein Herz aus Gold.“

In einer Woche aber will er wieder hinter dem Steuer sitzen: Denn seit seiner Magen-OP im Juli hat Müller 40 Kilo abgenommen, weitere 40 sollen noch runter. Er hat wieder Spaß an der Bewegung, trotz aller bösen Blicke große Freude am Schwimmen und bekommt auch wieder genügend Luft für Spaziergänge oder Shopping-Touren mit seiner Frau. Die ist ähnlich wenig auf den Mund gefallen wie er und verteidigt ihren Ehemann wie eine Löwin. Letztes Mal ist sie beim Einkaufen zu einer Gruppe von glotzenden Frauen gegangen und beschämte sie mit der Frage: „Wollen Sie etwas wissen? Das ist mein Mann, deswegen kann ich ihnen Antworten geben. Er hat Übergewicht und darunter ein Herz aus Gold.“

So hängen Ausgrenzung und Adipositas zusammen.

Eine grauenvolle Schwangerschaft

Die 37-jährige Lehramtsstudentin hat einen langen Leidensweg hinter sich. In Behandlung begab sie sich vor einem Jahr, als ihre Tochter gerade das Laufen lernte und sie dem Mädchen nicht hinterherkam. Seit zwölf Monaten bereitet sie sich mit einem Ernährungsprogramm und einem Bewegungsplan auf ihre OP vor. Und das hilft: „Jetzt werden wir beide zusammen schneller“, sagt Mayr. Mit Grauen erinnert sie sich an ihre Schwangerschaft: Mayr bekam Probleme mit der Schilddrüse, eine Diabetes und hohen Blutdruck. Ab dem sechsten Monat sollte sie im Krankenhaus bleiben. Zudem passte sie in keinen Rollstuhl, ein zuverlässiger Ultraschall vom Baby war wegen des Übergewichts nicht möglich.

„Wenn du nicht so fett wärest, kämst du auch durch.“

Ihr absoluter Tiefpunkt aber liegt schon mehr als zehn Jahre zurück. Damals arbeitete sie als Steuerfachgehilfin. Irgendwann sprach ihr Chef nur noch über Dritte mit ihr. Schließlich wurde ihr gekündigt. Bis heute ist sie sich sicher, dass sie wegen ihres Gewichts rausgeekelt werden sollte. Es folgten drei Monate, in denen Mayr 97 Bewerbungsschreiben versandte und genauso viele Absagen bekam. Wenn sie zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurde, waren die nach zehn Minuten zu Ende oder es wurde ihr offen gesagt, dass sie nicht vorzeigbar sei. So zog sie sich zurück und aß nur noch.

Hier finden Betroffene in Regensburg Hilfe.

Vorwürfe im Vorlesungssaal

„Irgendwann hatte ich die Schnauze voll“, sagte sie. Sie machte das Abendgymnasium und begann 2010 ihr Studium, das inzwischen kurz vor dem Abschluss steht. Auch an der Uni meidet Mayr bis heute jeden Kontakt. Das Schrecklichste ist, wenn sie die Letzte in der Vorlesung ist. Dann muss sie sich durch die Sitzreihen zwängen und sich dabei Einiges anhören. „Wenn du nicht so fett wärest, kämst du auch durch“, sagte einmal ein Kommilitone zu ihr. Deswegen setzt sie sich lieber Stunden in die Bibliothek und liest selbst nach, bevor sie andere um Rat fragt.

Eine Studie befasst sich mit dem Thema.

Auch beim Essen könnten die Lehramtsstudenten und der LKW-Fahrer nicht unterschiedlicher sein. Mayr hat inzwischen die Welt der Gewürze für sich entdeckt und macht um Chips, Cola und Schokolade einen großen Bogen. Müller verträgt sein Leibgericht, den Schweinebraten, gerade gar nicht mehr. Aber er ist voller Hoffnung: „Vielleicht, in vier Monaten oder so, werde ich dem Schweinebraten noch einmal eine Chance geben.“

Unsere Gesprächspartner fürchteten Nachteile, deswegen haben wir ihre Namen für diesen Artikel geändert.

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