Inklusion
Helfer in der Schule sind auch Hinderer

Schulbegleiter ermöglichen zwar behinderten Kindern den Unterricht. Aber Experten fänden mehr Pädagogen für die Klasse besser

02.12.2017 | Stand 16.09.2023, 6:19 Uhr

Schulbegleiter unterstützen Kinder mit Behinderung beim Schulbesuch. Foto: Daniel Naupold/dpa

Ohne Schulbegleiter wäre geregelter Unterricht in mancher Klasse nicht mehr möglich – und trotzdem fragen sich viele, die im Thema drin sind: Macht es Sinn, dass immer mehr Kinder mit Behinderung einen Schulbegleiter (SB) im Unterricht dabeihaben? Hinter vorgehaltener Hand lautet die Kritik: Schulbegleiter sind das staatliche Sparmodell für Inklusion.

Die Lehrer an den Schulen zahlt nämlich der Freistaat – zuständig fürs Genehmigen und Bezahlen von SB sind hingegen die Bezirke (bei Kindern mit geistiger oder körperlicher Behinderung) und Landkreise (bei seelischer Behinderung, also zum Beispiel verhaltensauffälligen Kindern). Der Freistaat steuert dazu nichts bei, verweist lediglich auf den allgemeinen kommunalen Finanzausgleich. Ist die (drohende) Behinderung gutachterlich bestätigt, haben Schüler und Eltern einen Rechtsanspruch auf SB.

Zahl ist rapide angestiegen

Norbert Birnthaler, Leiter des Kreisjugendamts, verzeichnet ein enormes Plus: „2013 hatten wir sechs Fälle von Schul- und Schulwegsbegleitung; heuer sind es rund 40 Fälle“, gut ein Viertel davon an Förderschulen. Der Posten „Eingliederungshilfe“, unter den die SB im Kreishaushalt fallen,ist entsprechend von 100- auf 530 000 Euro geklettert. Tendenz: steigend.

Birnthaler vermutet zum einen höhere Akzeptanz: Galten SB früher als „Makel“, sehen Eltern sie zunehmend als Chance für ihr Kind, die Schule trotz Behinderung zu schaffen. Zum anderen drängen Schulen nach seiner Erfahrung Eltern geradezu, etwa für ein verhaltensauffälliges Kind einen SB zu beantragen.

Kein Wunder, heißt es dazu aus der freien Wohlfahrtspflege, also Verbänden wie Caritas und Arbeiterwohlfahrt. Sie sind die Träger von rund 200 der 380 bayerischen Förderschulen. Bei einer Tagung 2015 kritisierten sie: Schulbegleitungen nehmen deshalb so zu, „weil sich die finanzielle und personelle Situation der Förderschulen von Jahr zu Jahr verschlechtert“. Obendrein steige dort „dramatisch“ die Zahl der Kinder mit Behinderungen, psychischen Störungen, schweren Verhaltensauffälligkeiten – was indes tendenziell auch Vertreter anderer Schularten beobachten.

Dass die Schülerschaft schwieriger wird, bestätigt Wolfgang Niemetz, Leiter der Prälat-Thaller-Schule der Kath. Jugendfürsorge Abensberg. „Wir brauchen daher Schulbegleiter als Entlastung für unsere Lehrkräfte“, die sich nicht dauernd zugleich um die gesamte Klasse und um einzelne Kinder mit besonderem Bedarf – meist wegen psychischer oder Verhaltensauffälligkeiten – kümmern können. Derzeit sind bis zu 20 SB, meist KJF-Mitarbeiter, an der Förderschule mit ihren 300 Schülern tätig. Auch wenn Niemetz heilfroh ist über die SB – „es gäbe natürlich auch andere pädagogische Konzepte“.

Mehr Pädagogen in den Klassen

Stimmt – aber genau dafür nehme der Freistaat kein Geld in die Hand, kritisierten jüngst Mitglieder im Kreis-Jugendhilfeausschuss, und zwar in Bezug auf alle Schularten. „Schulbegleiter sind aktuell eine gute Lösung, damit ein behindertes Kind überhaupt die Schule besuchen kann. Aber wenn wir das Grundrecht auf Teilhabe umsetzen wollen, müssten sich die Schulen verändern“, fordert Ausschussmitglied Kirsten Reiter. Konkret hieße das z.B.: zwei Lehrkräfte bzw. eine und eine pädagogische Kraft pro Klasse, dazu kleinere Klassen, konkretisierte Kreisrätin Christiane Lettow-Berger bei.

Das würde den Freistaat viel Geld kosten – weshalb ihm die SB lieber seien, argwöhnt Kirsten Reiter. Aber so werden die Landkreise zum Lückenbüßer für Defizite an den Schulen, kritisiert Monica Brandl, Sozial-Abteilungsleiterin am Landratsamt. Obendrein sei es ja gerade nicht im Sinne der Inklusion, wenn ein behindertes Kind ständig einen Erwachsenen dabei hat: „Das schließt die Kinder ja wieder aus“.

Ein Sprecher des Kultusministerium verteidigt die SB indes als „wichtigen Beitrag zum Gelingen der Inklusion“. Dass ihre Finanzierung bei Bezirken und Kreisen angesiedelt ist, habe der Bundes-Gesetzgeber jüngst im neuen „Teilhabegesetz“ bestätigt. Dieses Gesetz eröffne aber nun die Möglichkeit, dass mehrere Kinder gemeinsam durch einen SB betreut werden, falls sie keine durchgehende Einzel-Assistenz brauchen. Diese „Poolbildung“ soll laut Ministerium als Modellprojekt in Mittelfranken erprobt werden.

„Schulbegleiter sind eine gute Sache. Aber auf Dauer sind sie nicht der Weg zur Inklusion.“Mutter eines behinderten Schülers mit Schulbegleitung

Wie sieht der Alltag mit Schulbegleitung aus? Das haben wir die Mutter Jugendlichen aus dem Landkreis Kelheim gefragt.

Eines Ihrer Kinder hat Schulbegleiter. Wieso?Mein Sohn hat eine Muskelerkrankung. Er wechselte deswegen von der Grundschule an ein Förderzentrum. Aber dort ging es ihm nicht gut; er wollte unbedingt auf eine ,normale’ Realschule, er hatte auch ausgezeichnete Noten. Diese Schule ist der für ihn passende Weg; allerdings braucht er Hilfe auf dem Weg zur und in der Schule, zum Beispiel beim WC-Besuch oder beim Mitschreiben im Unterricht.

,Buchen’ Sie die Schulbegleiter über einen Anbieter wie AWO, KJF oder organisieren Sie sich das selbst?

Bei uns hier gab es damals noch keinen Anbieter – wir mussten deshalb selbst Schulbegleiter suchen und Arbeitgeber für sie werden. Wir haben jetzt drei Damen auf 450-Euro-Basis, die sich die Schulbegleitung aufteilen, und einen Jugendlichen, der unserem Sohn am Schulweg hilft. Das klappt ganz gut, aber im Einzelnen gibt es immer wieder Kämpfe, was tatsächlich bezahlt wird. Beim Skilager zum Beispiel war sein Vater dabei, weil hier die Kosten für Begleiter nicht übernommen wurden.

Stigmatisiert die ständige Begleitung durch Erwachsene einen Schüler?

Bei unserem Sohn kann ich das nicht beobachten: Er ist in der Klasse voll integriert, der Schulbegleiter zur Normalität geworden.

Führen Schulbegleiter zur Inklusion?

Ein zweischneidiges Schwert… Für uns konkret sind sie, angesichts der gesamten Schulsituation, eine gute Sache. Aber auf Dauer sind sie nicht der Weg zur Inklusion. Das Schulsystem müsste sich grundsätzlich ändern, damit Schüler mit Behinderung besser integriert sind: kleinere Klassen, bei Bedarf auch Pflegekräfte. Letztlich profitiert doch auch die Gesellschaft davon, wenn möglichst viele Kinder eine gute Schulbildung haben und ins reguläre Arbeitsleben eintreten können.