Porträt
„Ich allein kann gar nichts“

Dr. Willi Unglaub ist Suchtmediziner am Regensburger Bezirksklinikum. Sein Job sind schlimme Geschichten, die manchmal auch ein gutes Ende nehmen.

26.10.2013 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr
Angelika Sauerer

Willi Unglaub hat die Station vor 23 Jahren aufgebaut. Foto: Sabine Franzl

Erste Station: Entgiftung. Frau G. ist dreifache Mutter, seit 25 Jahren heroinsüchtig, etwas über 40, sieht aber älter aus. Eine schöne Frau, immer noch. Sie sagt: „Ich steh’ jetzt noch einmal auf und dann nimmer.“ Für ihre kleine Tochter, die neun ist, und ihre große, die über 20 ist und Angst hat, dass wer anruft und sagt: „Wir haben Ihre Mutter gefunden, tot.“

Es ist Freitagvormittag, Punkt 9.15 Uhr, als die Patienten auf der 19c im Regensburger Bezirksklinikum erzählen, wer sie sind und wie es ihnen geht. Manche stockend, andere wortreich. Zwischen den Kranken verteilt: Ärzte, Psychologen, Therapeuten, Krankenpfleger. Man erkennt sie auf den ersten Blick, es ist die innere Ruhe, durch die sie sich unterscheiden. Auch Willi Unglaub (57) sitzt in der Runde, die Beine überkreuzt, die Arme verschränkt, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Der Suchtmediziner hat die Station vor 23 Jahren aufgebaut. Es war die erste Entgiftungsstation in Bayern und die zweite in Deutschland. Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist der Leitende Oberarzt hier und ein Pionier. Während man anderswo das, was ihm damals vorschwebte, für gefährlich hielt, bekam er in Regensburg die Möglichkeit, etwas Neues aufzubauen. Deshalb ist er geblieben. Und vielleicht auch, weil er die richtigen Mitstreiter fand. „Ich allein kann gar nichts.“ Das sagt er immer wieder. Sein Team sei das beste auf der Welt.

Frau G. hat Angst, es wieder nicht zu schaffen

Später im Stationszimmer, wo die Ärzte und Pflegekräfte die Fälle besprechen, bekommen die Gesichter aus der Patientenrunde Geschichten. Es sind keine guten Geschichten. Sie handeln von Gewalt und Vernachlässigung in der Kindheit, von Heimaufenthalten, Missbrauch, Prostitution, Kriminalität, Gefängnis, Krankheit. Auch Frau G.s Geschichte geht so. Ein Detail daraus: Die Großmutter, ihre einzige Bezugsperson, und drei Menschen starben bei einem Verkehrsunfall, den ihr alkoholisierter Vater verursachte. Da war sie vier Jahre alt und von da an allein auf der Welt. „Mein Leben lang war keiner für mich da. Nur das Gift“, so sieht das Frau G. Jetzt sind für ein paar Wochen Willi Unglaub und seine Leute für sie und 24 weitere Patienten da. Nicht zum erstem Mal. Frau G. hat Angst, es wieder nicht zu schaffen.

„Wir sind immer wieder mit Verläufen konfrontiert, die schwierig sind. Die nicht gutgehen. Manchmal ist man als Therapeut mit seinem Latein am Ende und fühlt sich schlecht“, sagt Willi Unglaub. Auch wenn sein besorgtes Gesicht mitunter was anderes erzählt: Er kann diese Probleme gut in der Klinik lassen. Seine Frau, die fünf Kinder und viel Sport sorgen schon dafür, dass er sein anderes Gesicht aufsetzt: das mit den vielen kleinen Lachfalten. Aber was er bisweilen doch mit nach Hause nimmt, sind organisatorischer Stress, Frust über fehlende Geldmittel und Ärger über eine Gesellschaft, die Suchtkrankheiten mit einem „selber schuld“ abschiebt. Ist jemand daran schuld, dass sein Belohnungssystem im Gehirn genetisch bedingt stärker auf Suchtmittel anspringt? Ist einer daran schuld, Alkohol schneller abbauen zu können als andere? Ist man daran schuld, missbraucht, vernachlässigt, nicht geliebt oder verführt worden zu sein? „Man kann Menschen nicht für etwas bestrafen, wofür sie nichts können“, sagt Unglaub. „Man kann ihnen Hilfe anbieten und den Anspruch an sie stellen, sich zu bemühen.“ Das ist sein Job.

Es ist der Kopf und das, was drin vorgeht, was Willi Unglaub schon immer interessierte: Warum handeln Menschen so und nicht anders? Nach dem Abitur in Amberg studierte er Chemie und Biologie. Drei Semester später sattelte er auf Medizin um. „Ich wollte mit Menschen zu tun haben.“ Nach dem Studium in Erlangen kam er nach Regensburg zur Facharztausbildung in der Psychiatrie und Neurologie. Sein damaliger Chef, Dr. Heribert Fleischmann (heute Chefarzt im Bezirksklinikum Wöllershof), führte ihn 1987 als Assistent an eine gute, akzeptierende Behandlung Suchtkranker heran.

Gegen die Sucht helfen keine Tabletten, behandelt wird mit Psychotherapie. Genau das reizte Willi Unglaub. Über der Couch in seinem Büro hängt eine Karikatur mit Sigmund Freud. Auf der Couch liegen Bücher, Ordner, Flyer, Ausdrucke: Willi Unglaub therapiert nicht nur Patienten, sondern mittlerweile auch ein System, das Süchtige zwar generiert, aber dann nichts mehr von ihnen wissen will. Seine Medizin: aufklären, Netzwerke knüpfen, Menschen überzeugen.

Zweite Station: Substitutionsambulanz. Der Arzt eilt in seinen grün-schwarzen Turnschuhen nach unten. Es gibt ja durchaus wirksame Medikamente: Aber Methadon und ähnliche Mittel bekämpfen nicht die Sucht, sondern ersetzen die Droge durch einen Stoff, der nicht berauscht. Kein Kick, aber auch kein körperlicher Entzug. Und kein Grund mehr, Drogen und das Geld dafür – meist auf kriminellem Weg – beschaffen zu müssen. 1997 hat Willi Unglaub die Substitutionsambulanz im Erdgeschoss von Haus 21 begonnen. Dahinter stand auch der therapeutische Gedanke: „Ich kann auf den Patienten nur dann einwirken, wenn er zu mir kommt.“

„Wir können keine Wunder vollbringen“

Herr E. kommt schon lange: täglich, 365-mal im Jahr. Er ist 50 Jahre alt, mit 25 begann er, Heroin zu spritzen. Müde und blass sitzt er da. „Mir geht’s so gut wie lange nicht mehr.“ Herr E. spricht langsam: „Man fühlt sich gut aufgehoben hier. Die therapeutische Beziehung ist mir sehr wichtig. Ich kann jetzt ein normales Leben führen.“ Aber was ist schon normal? Er erzählt, dass bei seiner Tochter Brustkrebs diagnostiziert wurde. Herr E. weiß noch nicht, ob er das verkraftet.

Rund 100 Patienten können in der Substitutionsambulanz der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum Regensburg betreut werden. Die Warteliste ist lang. „Wenn du hier einen Platz kriegst, hast du echt Glück“, hat Frau G. vorher erzählt. Ihr ist es jedoch wieder entglitten. „Wir können keine Wunder vollbringen“, sagt Willi Unglaub. Aber dass Herr E. noch lebt, ist ein Erfolg.

Dritte Station: Visite in der Karthause. Die Rehabilitationseinrichtung für drogenabhängige Alleinerziehende und Paare mit Kindern liegt in Haus 27 direkt hinter der Kirche. Frau S. kämpft um ihr Bein. Sie ist Mitte 30, spritzte Heroin in die Beinvene in der Leiste. Die Folge: Durchblutungsstörungen, Thrombosen, offene Wunden. Wenn die OP, bei der ein Venenbypass gelegt werden soll, keinen Erfolg bringt, wird die junge Mutter das Bein verlieren. Während sie der Psychologin, der Krankenschwester und Willi Unglaub im Büro ihre Ängste schildert, quietscht draußen der Sohn einer Mitpatientin. Nach der OP, hofft Frau S., wird sie ihr Kind auch bei sich haben können. In der Karthause gibt es acht Betreuungsplätze. Hier werden die Weichen gestellt für eine Zukunft nach der Sucht: Erziehen lernen, Verantwortung übernehmen, Arbeit finden, wieder mit beiden Beinen im Leben stehen. „Ich drück’ ihnen die Daumen. Die OP wird schon klappen.“ Willi Unglaub lächelt Frau S. aufmunternd zu. Er hat die Eltern-Kind-Station 1998 mit aufgebaut. Das war ihm lieber, als an der Karriere zu feilen. Der Arzt trägt ein Armband, das ihn daran erinnert, seine Energie nicht sinnlos zu verpulvern. In der Karthause ist sie gut angelegt. Auch Frau S. ist froh, hier sein zu können. Als man sie fragt, ob ihr nicht eine andere Reha lieber wäre, die sich mehr um ihre körperlichen Beschwerden kümmert, weint sie.

Vierte Station: DrugStop in der Landshuter Straße 43, gegründet 2000. Die Keimzelle des gemeinnützigen Vereins lag in der Entgiftungsstation des Bezirksklinikums. Betreuer und Patienten spielten gemeinsam Theater – dabei erfuhren die Süchtigen, wie toll es ist, einen legalen Kick zu erleben, auf der Bühne. Daraus entstand die Idee, einen Verein zu gründen, der mit Freizeitprojekten, aber auch praktischer Lebenshilfe, Wohngruppen, Anlaufstellen den Ausstieg begleitet sowie durch Prävention den Einstieg verhindern hilft. Willi Unglaub und Marion Hoffmann-Plank, Ergotherapeutin auf der 19c, sind die Vorsitzenden, Evelyn Strobel, Sozialpädagogin, ist die Leiterin. In einer großen Runde sitzen sie beisammen, um den Fall einer Methadon-substituierten Schülerin zu besprechen. Viele der DrugStop-Mitarbeiter sind Ex-User, aber man erkennt sie in der Runde nicht. „Ohne die würde es nicht laufen“, sagt Unglaub. Ex-User haben einen direkten Zugang zu den Suchtkranken und wirken bei Präventionsaktionen in Schulen besonders glaubwürdig.

„Es gibt eine realistische Chance, clean zu werden“

Eine Ex-Userin hat Willi Unglaub vor ein paar Jahren in der Karthause zur Mitarbeit bei DrugStop bewegt. Mittlerweile hat sie zwei Kinder und ist fest angestellt. Ihre Botschaft: „Es gibt eine realistische Chance, clean zu werden.“ In Regensburg hat diese Chance viel mit Willi Unglaub zu tun. Und allen, die mit ihm zusammenarbeiten.

www.medbo.de,www.drugstop.de