Klinik
Kampf für die Kinder – und gegen Mangel

MZ-Themenwoche: Das Bezirksklinikum Regensburg hat nur 28 Plätze für psychisch kranke Kinder und Jugendliche.

21.07.2016 | Stand 16.09.2023, 6:47 Uhr
Die Station 25 beherbergt die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Bezirksklinikum Regensburg. Trägergesellschaft ist die medbo des Bezirks. Weitere Standorte befinden sich in Amberg, Weiden und Cham. −Foto: Fotos: Gaupp

„Eltern sollen die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht als bedrohlich empfinden. Sie sollen wissen, dass hier Menschen arbeiten, die ein offenes und warmes Herz haben und ihnen und ihrem Kind helfen wollen.“ Zu viele Eltern warten noch zu lange, bis sie professionelle Hilfe für ihr Kind suchen. Aus Scham, aus Unwissenheit aus Stolz.

Dr. Alexander Rexroth ist Chefarzt und kommissarischer Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Bezirksklinikum Regensburg. Etliche Kinder befänden sich in einem sehr schlechten Zustand, wenn sie in die Klinik kämen, sagt er.

Eltern handeln zu spät

Um den jungen Patienten zu helfen, scheint es noch mancher Verbesserung und Aufklärung zu bedürfen. Angefangen bei den Eltern: Nicht selten versuchten sie, ohne fremde Hilfe auf psychische Auffälligkeiten ihres Kindes zu reagieren, weiß Dr. Rexroth aus Erfahrung. Sie lesen Ratgeber, ziehen sich Informationen aus den Medien – suchen die Schuld bei sich. „Was habe ich falsch gemacht, dass mein Kind sich so verhält?“, fragten sich viele Eltern. Doch es gehe gar nicht um Schuld – die Ursachen für eine psychische Erkrankung seien vielschichtig, erklärt der Mediziner.

Gleichzeitig herrsche Unwissenheit – zum Beispiel, was das Thema Depressionen bei Kindern angehe. „Kinder können doch keine Depressionen haben“, zitiert er ein Vorurteil. Deshalb würden Symptome falsch gedeutet. Wichtig sei, dass betroffenen Kindern möglichst schnell eine möglichst professionelle Hilfe zuteilwerde.

Erste Lebensjahre unterschätzt

Und vor allem möglichst frühzeitig. „Störungen, die in den ersten drei Lebensjahren entstehen, sind im Nachhinein nicht mehr gutzumachen.“ Alle Therapien, Trainings und Initiativen könnten im Nachhinein nur dafür sorgen, dass das Kind „einigermaßen ähnlich leben kann wie Gleichaltrige“. Bindungsstörungen zum Beispiel. Vielleicht sei manch einem nicht bewusst, wie wichtig die ersten drei Jahre im Leben eines Menschen seien. Gerade dann, wenn er noch nicht selbst in der Lage ist, seine Bedürfnisse klar auszudrücken. Deshalb sollten Eltern eine Fremdbetreuung von Kleinkindern hinterfragen, sagt Rexroth. „Eine Fremdbetreuung ist per se nicht schlecht – aber sie muss passen.“

Kranke Eltern – kranke Kinder

Bei Kindern psychisch kranker Eltern treten ebenfalls häufig psychische Störungen auf. Das habe verschiedene Ursachen, erklärt der Mediziner. Zum einen seien diese Eltern nicht immer in der Lage, sich ausreichend um ihre Kinder zu kümmern. Zum anderen müsse man wissen, dass Eltern unbewusst das weitergeben, was sie selbst in ihren ersten Lebensjahren erlebt haben. „Transgenerationale Weitergabe“ nennt man dies. Dabei dürfe man nicht vergessen, dass in Deutschland vor zwei bis drei Generationen Krieg geherrscht habe. „Es gibt viele Auswirkungen der ersten Generation, die sich fortpflanzen.“

Chronische Unterversorgung

In solchen Fällen sei es ganz besonders wichtig, dass sich auch die betroffenen Erwachsenen in Behandlung begeben, hebt Dr. Christian Rexroth hervor. Deshalb wäre eine Mutter-Kind-Abteilung ein großer Wunsch von ihm. Aber leider sehe das Gesundheitsministerium dafür in der Oberpfalz keinen Bedarf. Ein solches Angebot wäre auch für die jüngsten Patienten oder solchen mit Autismus sehr hilfreich, denn dann hätten sie eine vertraute Person in ihrer Nähe.

Eine Eltern-Kind-Abteilung könne auch verhindern, dass Kinder aufgrund einer psychischen Störung der Eltern aus der Familie gerissen und in einer Pflegefamilie untergebracht werden müssten. 80 seien es im Jahr 2014 in der Oberpfalz gewesen. „Das sind 80 Kinder, die durch das System geschädigt werden.“

Das wäre dann auch schon das dritte Problem, mit dem sich Eltern psychisch kranker Kinder konfrontiert sehen: Es gibt zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater und -psychologen, die KJP in Regensburg verfügt über viel zu wenig Betten in der stationären Behandlung – und zu wenig Plätzen in den Tageskliniken. Gerade einmal 28 Betten bietet die Station 25. Dank des Neubaus, der bis Juni 2017 an der Vitusstraße entsteht, werden es 40. Die Tageskliniken werden von 14 auf 22 Plätze aufgestockt. Dann hat die Ära der Drei- und Vierbettzimmer für die Patienten ein Ende.

Die dezentralen Tageskliniken in Weiden und Amberg bieten zusätzlich je zwölf Plätze an. Außerdem habe das Gesundheitsministerium grünes Licht gegeben, dass in Weiden weitere 32 stationäre Betten eingerichtet werden. Baubeginn soll 2018 sein. Dieses Angebot gilt für die gesamte Oberpfalz wohlbemerkt.

Dabei steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in die Klinik eingewiesen werden. Als er 2011 die Leitung der KJP übernommen habe, seien es noch 260 Patienten gewesen – 2015 seien es 440 gewesen. „Die Zahlen sind in den vergangenen fünf Jahren jedes Jahr um rund 20 Prozent gestiegen.“ Weil die Plätze nicht ausreichen, sinkt die Verweildauer. Vor zehn bis 15 Jahren seien die Patienten zwischen 50 und 60 Tage stationär in der Klinik gewesen.

Heute bleiben die akuten Fälle im Durchschnitt zehn Tage, die übrigen zwischen 20 und 30 Tagen. „Drehtür-Psychiatrie“ nennt es Dr. Rexroth mit einem bitteren Lächeln. Die Patienten, denen es etwas besser geht, machen Platz für die, denen es sehr schlecht geht. Dabei macht er keinen Hehl daraus, dass so manches Kind eigentlich mehr Zeit benötigen würde.

Das Fachpersonal fehlt

Der Druck auf die Klinik wäre nicht so hoch, gäbe es mehr niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater sowie -psychologen. „Es sind eklatant zu wenige in der Oberpfalz“, sagt Rexroth. Als die KJP des Bezirks 1993 eröffnete, habe es in der Oberpfalz noch einen zusätzlichen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater gegeben. Heute seien es zumindest 14.

Das liege nicht an der Politik, es gebe etliche freie Sitze. „Aber es lässt sich niemand nieder.“ Einen Grund macht er in der Ausbildung der Mediziner aus: Während des Studiums spiele die Kinder- und Jugendpsychiatrie quasi keine Rolle. Dadurch kennen die Studenten das Fachgebiet zu wenig.

Rexroth will dem entgegenwirken, indem er Praktika ermöglicht und Plätze für das praktische Jahr während der medizinischen Ausbildung anbietet. Gewisse Grundkenntnisse in der Kinder- und Jugendpsychologie wünscht sich Rexroth auch in anderen Bereichen – eigentlich bei allen Menschen, die von Berufs wegen mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. „Oft werden psychische Störungen zu spät erkannt. Wenn man schon einmal in diesen Fachbereich reingeschnuppert hat, verfügt man über eine gewisse Erfahrung und kann Eltern und Kinder weitervermitteln.“

Dafür brauche es ein kompetentes Netzwerk. Und mehr Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern. Und eine größere Lobby, sagt Rexroth. Angesichts der zunehmenden psychischen Störungen wird der Druck in Zukunft nicht weniger: Etwa 40 Prozent der Kinder leiden unter Schlafstörungen, sagt Rexroth. Affektive Störungen wie Depressionen oder ADHS wiesen 20 bis 25 Prozent der Kinder auf. Wenn man bedenkt, dass psychisch kranke Eltern die Störung an ihre Kinder weitergeben, wird das erschreckende Ausmaß deutlich, das Dr. Rexroth so beschreibt: „Wenn wir dieser Entwicklung nicht Einhalt gebieten, wird die Lawine immer größer.“

Weitere Artikel zur Themenwoche „Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ finden Siehier.

Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Bernd Kohlmann bietet am Donnerstag, 21. Juli, eineunverbindliche Telefonsprechstundean.

Laut Studien leidet jedes fünfte Kind unter psychischen Problemen.

Vor allem bei Mädchen äußern sich Probleme nicht selten in Form einer Essstörung.Zwei Betroffene erzählen im MZ-Gespräch.

Weitere Nachrichten aus der Region Neumarkt finden Siehier.