Bauwerke
Kathedrale der Langstab-Isolatoren

Blauweiße Blitze zucken und es knistert unheimlich: Seit 82 Jahren werden im Selber Hochvolthaus Isolatoren für Stromleitungen getestet.

30.12.2012 | Stand 16.09.2023, 21:03 Uhr
Reinhold Willfurth
Hier wird der Mensch ganz klein: 21 Meter hoch sind die Wände des Hochvolthauses. −Foto: Fotos: Gabi Schönberger

Zu sehen ist nichts, nur zu hören ist etwas. Zuerst leise, dann immer lauter britzelt es da draußen in dem stockdunklen Raum. Das Geräusch ähnelt jenem, das einem bei feuchtem Wetter unter einer Hochspannungsleitung das unbehagliche Gefühl verschafft, am völlig falschen Ort zu sein. Die Stimmung ist aufgeladen. Doch das unangenehme Britzeln ist nur der Auftakt für das Inferno, das gleich folgen wird. „Steigt sehr schnell!“, ruft Werner Sümmerer und drückt weiter auf den Knopf neben seinem Monitor mit dem Pfeil nach rechts. Die Britzelei, begleitet von einem bedrohlichen Brummen, wird immer lauter. Plötzlich durchzuckt ein meterlanger blauer Blitz die Dunkelheit. Ein lauter Knall, und es herrscht Stille. „Spannung aus! Aberden!“ ruft Sümmerer.

Alltag im „Hochvolthaus“ in Selb. Seit 1930 werden hier Isolatoren für Hochspannungsleitungen und andere Einrichtungen der Energieindustrie getestet. Werner Sümmerer und seine Kollegen passen auf, dass die Isolatoren ihren Zweck erfüllen: Die meist baumkuchenartig geformten Bauteile aus Porzellan oder Kunststoff verbinden die Leitungsseile mit den Strommasten, ohne dass Strom nach unten fließt – unter normalen Bedingungen. In Selb werden die Isolatoren einem Stresstest unterzogen, der anzeigt, wie hoch der Strom fließen muss, damit sie versagen. Genau 731.000 Volt hat Werner Sümmerer durch die Versuchsanordnung gejagt, bis der Strom von der Leitung in den Mast fließen würde. Test bestanden – durch eine Hochspannungsleitung fließen nur rund 220.000 Volt.

Wie aus einem Fritz-Lang-Film

Die Außenansicht des im Stil der neuen Sachlichkeit gebauten Versuchszentrums könnte allenfalls Architekten und Kunsthistoriker begeistern. Wer aber durch die unscheinbare Eingangstür getreten ist, wähnt sich in den faszinierenden Kulissen von „Metropolis“, Fritz Langs fiebrigen Science-Fiction-Film von 1926: Riesige, glänzende Metallringe schweben scheinbar schwerelos von der 21 Meter hohen Decke. Rätselhafte Leitungen führen zu merkwürdigen Apparaturen, wie sie sich nur ein Filmarchitekt ausdenken kann, dem die Fantasie durchgegangen ist. Hinten in der Ecke reckt sich ein grün lackiertes ofenartiges Gerät in die Höhe, dem man alles zutraut, nur nicht die Rolle eines braven Transformators.

Doch das über acht Meter hohe Monstrum wurde 1930 zu genau dem Zweck eingebaut, den Strom aus der Steckdose für die Zwecke des neuen Stromlabors der Philipp Rosenthal AG hochzufahren. Die Selber Porzellanfirma, 1879 gegründet und weltbekannt für edles Geschirr im ausgefallenen Design, hatte 1900 mit dem Bau von Isolatoren für Telefon- und Telegrafenleitungen begonnen. Ab 1910 kamen Langstab-Isolatoren für Überlandleitungen hinzu. Dafür ließ Rosenthal 1930 das neue Hochspannungslabor bauen. Nur 20 Zentimeter dick sind die Bimsbetonwände in dieser Kathedrale der Stromtechnik, die durch ihre Stahlarmierungen als „Faraday'scher Käfig“ konstruiert ist, um Stromeinflüsse von außen wie Blitzschläge fernzuhalten. Strom fließt im Inneren der riesigen Halle schließlich schon genug.

Viele von den historischen Geräten benutzen Laborleiter Wolfgang Liebl und seine elfköpfige Testmannschaft auch heute noch, ein Beleg dafür, wie weit die Elektrotechnik schon vor über 80 Jahren war. Der Denkmalschutz wacht darüber, dass die im Stil der Zeit gemauerten Treppen mit ihren handgeschnitzten Holzhandläufen nicht leiden und der Aufzug zum Beobachtungsbalkon in schwindelnder Höhe mit seinen Intarsien aus Eichenholz erhalten bleibt. Doch Werner Liebls Mannschaft fühlt sich wohl im Hochvolthaus und passt daher schon auch selber auf, dass so wenig wie möglich verändert wird. Welcher Industriearbeiter kann schon von sich sagen, dass er in einem denkmalgeschützten, voll funktionsfähigen historischen Gebäude Zukunftsarbeit verrichtet?

Aufträge kommen aus aller Welt

Die Dienste der Techniker, gelernte Handwerker vom Maurer bis zum Elektriker, sind so gefragt, dass die Aufträge des heutigen Besitzers, „Lapp Insulators“ aus den USA, im Zweischichtbetrieb abgearbeitet werden. Isolatoren für Stromleitungen mit ihren 40 Jahren Lebensdauer sind nicht nur im Energiewende-Land Deutschland gefragt. Gerade waren Techniker aus China und aus England in Selb, um testen zu lassen, wie viel Strom ihre Bauteile vertragen. Die Expertisen aus dem Hochvolthaus gehen in alle Welt. Schließlich gibt es weltweit nur noch ein Pendant für den Selber Elektrotechnik-Dom: Das Labor der japanischen Firma NGK ist viel jünger und noch etwas größer.

In einer Ecke hat die Hochvolt-Mannschaft eine Ahnenreihe von Isolatoren aufgereiht, die hier bereits malträtiert wurden. Der älteste stammt aus den zwanziger Jahren und ist aus Buchenholz. Mag dieser Isolator veraltet sein – das Rosenthalsche Hartporzellan hat sich als Material ebenso gut gehalten wie das Selber Monument der Elektrotechnik.