O dunkles Dunkel: Müntes sauerländische Jungmännerwelt

Mitte der 60er Jahre debütierte Franz Müntefering als Prosa-Rabauke. An seiner Seite: der wehmütige Regensburger Jung-Lyriker Benno Hurt

14.02.2010 | Stand 12.10.2023, 10:21 Uhr
Helmut Hein

Regensburg.Der erste Reflex: Die Geschichte ist zu gut. Sie kann nur erfunden sein. Ausgerechnet Franz Müntefering, zweimal SPD-Chef, Schröders Mastermind, Erfinder der Kampa und der „auf Kante genähten“ Drei-Wort-Satz-Prosa (in der einige schon früh puren Dadaismus erkennen wollten), hat nicht als Sekretär des linken Weltgeists begonnen, sondern als spät-pubertärer und spät-expressionistischer Autor in einer heute weitgehend vergessenen, damals aber renommierten Literaturzeitschrift namens „PRO“. Seit’ an Seit’ mit Benno Hurt, erst Schriftsteller, dann Richter, dann Fotograf, dann wieder Schriftsteller und präziser Chronist der Nachkriegsjahrzehnte in der BRD.

Autos, Fußball, Frauen, Bier

Benno Hurt, dessen Schriftsteller-Biografie für manche Überraschung gut ist – man denke an seinen Briefwechsel mit Marieluise Fleißer –, genießt seinen neuesten Coup. Und macht gleich noch Reklame für seinen letzten Roman: „Wie wir lebten“. Das könnte nämlich der Titel einer Recherche sein, die den verlorenen und vergessenen, manchmal auch verdrängten Anfängen deutscher Nachkriegs-Karrieren gilt. Zwischen uns auf dem Kaffeehaus-Tisch liegt der Beweis dafür, dass Müntefering einst ein Poet war – und vermutlich nur durch die Ignoranz und/oder Häme der Kritik erst zum Funktionär und dann zum Politiker wurde. Müntefering wäre nicht der erste gescheiterte Künstler, der in der Weltveränderung einen Ausweg für sich sah. Die Zeitschrift PRO – Heftformat, avantgardistenbrauner Karton, souveränes Understatement als Aufmerksamkeitsstrategie – platziert die beiden Protagonisten dieser Geschichte im Mitarbeiterverzeichnis in einer Spitze-des-Fortschritts-mäßigen Mischung aus Versalien- und Kleinschreibung so: „mit FRANZ MÜNTEFERING, 5768 sundern/sauerland, stellt PRO einen jungen unbekannten autoren erstmals zur kritik.“ Der späte Wiederentdecker seiner künstlerischen Ambitionen ist da schon weiter: „BENNO HURT, 84 regensburg, hemauer str. 16 veröffentlichte 1965 einen band erzählungen mit dem titel ‚frühling der tage‘.“ Mit im selben Band: Nicolas Born mit einer Erzählung, die bedrängend beweist, wie schwer es damals junge Männer mit ihrer Sexualität hatten.

Regensburg.Davon kündet auch Münteferings Text, der schon alle Motive seines späteren Politikerlebens versammelt, aber eben nicht souverän gegen mögliches Missverstehen immunisiert, sondern ungeschützt und gelegentlich geradezu obszön. Müntefering entwirft eine Jungmännerwelt aus Autos („Zigmal trainierter Hecht hinters Steuer“), Fußball („wer ist schon Emmerich“) oder, drastischer noch und in der Grauzone zwischen ungeniertem Expressionismus und lettristischen Sprachspielereien: „O dunkles Dunkel: Äh, Schalke nullvier. Dafür gibt’s keine Buchstaben: nullsilbiger gackerhafter Schluckauf trocken“, Bier. Im Zentrum der poetisch entworfenen Jungmännerwelt aber steht die Frau, deren Unerreichbarkeit zu Verachtung und Prostitutionswünschen führt: „In Waggons auf dem Abstellgleis“ soll dieses „Amateurnuttentum“ zur Taschengeldaufbesserei stattfinden, es wird von Überweisungen auf ein stimmiges Konto fantasiert: „666 Zuhältergewerkschaft“. Immerhin schon: Gewerkschaft! Und es fehlt auch nicht der probate Politikereinwand: „Du willst hoffentlich die Mädchen nicht strafbarerweise anhalten zum Amateurnuttentum.“ Wenn die Misogynie allzu exzessiv und sexuell wird, greift Müntefering zum schützenden Reim: „Saure Wochen, frohe Feste. Das Nichts ist an der Frau das Beste, das Ding ist seiendes Mannestum: es füllt das Nichts zu Gottes Ruhm.“ Das war Mitte der 60er anscheinend der Stand sauerländischer Pornografie im nur scheinbar gut gelaunten Volksliedton. Das Nichts ist dabei nicht nur Metapher, sondern Synonym für die Frau, deren natürlicher Ort damals anscheinend noch die Männerfantasie war.

Unerheblich bis peinlich

Münteferings Prosa ist aber auch dort, wo sie direkt und unmittelbar politisch wird, eher derbere Hausmannskost. Solide ist sein Hass auf die (katholische) Kirche: „Selig die Gutgläubigen. Selig die Gehämmerten.“ Man spürt die blasphemische Lust. Die vielleicht damit zu tun hat, dass hartherzigste Diskriminierungen im hohen moralischen Ton von christlichen Kanzeln gepredigt wurden, „wenn man bei uns unehelicher Abkunft und norwegischer Uniform wegen nicht Kanzler werden kann“. Die Rede ist natürlich von Willy Brandt, der später noch einmal buchstäblich ins „Bild“ kommt. Die Pfarrer und Springers Massenmedium sind für Müntefering unüberhörbar die Achse des Bösen: „Pfarrer in Bild: Schweinerei bleibt Schweinerei. Ein Katz- und Mausesprung bis Willy Brandt.“

Regensburg.Literarisch ist Münteferings Prosatext unerheblich bis peinlich, als frühes Dokument eines festgefügten Politikerlebens aufschlussreich. Und es drängt sich einem der Verdacht auf, dass der Autor schon damals „Kampa“-Fertigkeiten nötig hatte, um ihn ins, wie es neudeutsch heißt, anspruchsvolle Blatt zu „heben“.

Benno Hurt dagegen braucht sich für seine frühe Lyrik keineswegs zu schämen. Auch da sind schon viele spätere Motive spürbar, aber in lakonischer und gehärteter Form. Was jetzt, im Rückblick, heißt: „Wie wir lebten“, erschien einst, für einen twenty-something rätselhaft-retrospektiv, in einer Art Futur zwei: „Wie du niemehr sein wirst.“ Eine Bestandsaufnahme vor der Zeit. Die Melancholie des Zeitvergehens paart sich mit einem diffusen Phantasma des Versagens: „und hast Angst du seist für wenige Dinge der richtige Mann.“

Hurt hortet Münteferings frühe Prosa wie einen Schatz. Er wollte ihn nicht herausgeben, solange Müntefering noch führender Politiker war. Jetzt, im Ruhestand, mit junger Frau und, wie Hurt meint, „lächerlichen“ Fußball-Dribbeleien vor Kameras, schlägt die Stunde der Abrechnung – in einem ganz nüchternen Sinn: „Wie wir lebten“; wie wir wurden, was wir vielleicht immer schon waren; wie wir das Leben, das vergangen ist, vermissen oder es mit aller Macht, auch der schon entschwundenen, simulieren.