Peggy Büchse: „Ich wollte nie eine Männerstimme“

Peggy Büchse aus Rostock stieg nach der Wende zur weltbesten Langstreckenschwimmerin auf, heute ist sie Sportdozentin in Regensburg. Mit Gerd Schneider spricht sie über Drill, Doping und das DDR-System.

06.11.2009 | Stand 06.11.2009, 17:33 Uhr

Am Montag jährt sich zum 20. Mal der Fall der Mauer. Wissen Sie noch, was Sie am 9. November 1989 gemacht haben?

Ich war zu Hause bei meiner Familie, wir schauten einen Film im Westfernsehen an. Und dann lief plötzlich unten so ein Nachrichtenstreifen: ,Die Mauer ist gefallen.’ Wir haben erst gar nicht begriffen, was damit gemeint war. Doch dann sahen wir die Bilder live aus Berlin. Da wussten wir, was los ist. Wir haben eine Flasche Sekt aufgemacht und ein bisschen gefeiert.

Das war alles?

Ja, an dem Tag schon. Wir sind jedenfalls nicht gleich in den Trabi gestiegen und nach Berlin gefahren.

Hat Sie der Fall der Mauer überrascht?

Auf jeden Fall. Aber es hat mich nicht total umgehauen. Ich war ja als Sportlerin in einer Sonderposition gewesen, ich hatte Privilegien und kannte den Westen von einigen Reisen zu Wettkämpfen. Mir selbst hat deswegen auch nicht so viel gefehlt. Außerdem war ich damals 17 Jahre alt, ein Teenager. Ich fand es einfach cool, dass die Grenzen gefallen sind.

Sie erlitten auch keinen Kulturschock?

Den gab es schon bei meinen ersten Fahrten zu Wettkämpfen ins kapitalistische Ausland, wie es damals hieß. Den Schock hatte ich längst hinter mir, als die Mauer fiel.

Wie sehr änderte sich Ihr Leben als Sportlerin?

Das ging ganz schnell. Bei uns Rostock ist in kurzer Zeit alles weggebrochen. Trainer sind arbeitslos geworden, junge Athleten mit ihren Eltern sind rüber. Und von heute auf morgen verschwand dieser Druck, der ständig da war.

Sie meinen den Drill?

Ja. In meinem Fall war es so: Ich war 1987 Junioren-Europameisterin über 400 Meter. Doch dann ging es bergab mit meinen Leistungen. Die haben mich das spüren lassen, dass die Erfolge ausblieben. Ich war abgestempelt, nicht mehr viel wert. So war das in der DDR: Wenn Leistungen nachließen, wurde man durch Nichtachtung abgestraft.

Warum blieben Ihre Erfolge aus?

Ich führe das auf das Training zurück. Zu früh, zu viel, zu hart. Ich habe mit 13 schon so viel trainiert, dass später keine Steigerung mehr möglich war. Sechs, sieben Stunden pro Tag. Nur der Sonntag war frei. Am Anfang schlägt das Training schnell an. Aber irgendwann stagniert die Leistung. Im DDR-Schwimmen war es ja so vorgesehen, dass der Knick erst mit 18, 19 Jahren kam, nach Erfolgen bei Olympischen Spielen. Dann konnte man abdanken. Mit 20, 21 Jahren war damals Schluss im Schwimmen. Bei mir kam der Leistungsstillstand ein paar Jahre zu früh. Anstatt über neue Trainingsreize nachzudenken, blieb man beim alten Trott.

Als Sportlerin durften Sie ins Ausland reisen und standen deshalb sicher unter besonderer Beobachtung. Wissen Sie, ob die Stasi Sie und Ihre Familie bespitzelt hat?

Meine Akten habe ich bei der Birthler-Behörde noch nicht angefordert, aber eines Tages mache ich das. Ich weiß aber, dass man die Nachbarn über mich ausgefragt hat.

Wie ging es mit Ihrer Karriere nach der Wende weiter?

Ich bin weiter geschwommen, aber nicht mehr so intensiv wie vorher. 1993 habe ich das Abitur gemacht. Ich wollte beruflich etwas in der Hotelbranche machen und mit dem Schwimmen aufhören.

Dann haben Sie das Freiwasserschwimmen entdeckt, das damals aufkam.

In Fürth gab es die ersten deutschen Meisterschaften, über fünf Kilometer nahmen daran drei deutsche Frauen teil. Drei! Ich habe gewonnen und mich für die EM qualifiziert. Ich lernte die ganze Szene kennen und erfuhr, dass es Rennen in Argentinien und sonst wo gab. Da habe ich dann endgültig gewusst, dass es das war, was ich wollte. Ich schrieb mich an der Uni in Rostock für Sport und Englisch ein, und ich schwamm.

Zwischen 1996 und Ihrem Laufbahnende 2001 waren Sie die erfolgreichste Langstreckenschwimmerin der Welt. Hatten Sie nie das Gefühl, es hätte auch im wesentlich populäreren Beckenschwimmen für eine große Karriere gereicht?

Langstreckenschwimmen war genau das richtige für mich. Ich gewann mehrere Weltmeister-Titel. Ich glaube nicht, dass ich das im Becken geschafft hätte.

Wie war das in den Jahren nach der Wende, haben Sie die DDR und die alten Zeiten vermisst?

Überhaupt nicht. Als junger Mensch habe ich die Dinge genommen, wie sie sind. Erwachsene und ältere Menschen hatten sicher viel mehr damit zu kämpfen, dass plötzlich alles auf den Kopf gestellt wurde. Aus heutiger Sicht vermisse ich allerdings schon etwas. In der DDR war die Solidarität der Menschen untereinander viel, viel größer. Freundschaften waren enger und verbindlicher. Heute ist mir alles viel zu sehr auf Konsum und Kommerz ausgerichtet.

Erkennen Sie Leute, die aus dem deutschen Osten stammen?

Wenn ich an meine Studenten denke, die bei der Wende noch sehr klein waren oder erst später geboren wurden, da gibt es keine Unterschiede mehr. Die Älteren unterscheiden sich aber schon von den Westdeutschen.

Worin?

In der Mentalität. Die aus dem Osten sind meist lockerer, offener, freundlicher. Ich meine eine ernst gemeinte, ehrliche Freundlichkeit. Die Ellbogen können sie nicht so gut einsetzen.

Sie leben seit acht Jahren in Regensburg. Haben Sie in der Zeit gelernt, die Ellbogen einzusetzen?

Bei mir ist etwas anderes. Ich war jung, als die Wende kam, ich bin vorher schon viel gereist und war nicht nur in meinem Ost-Städtchen. Und im Sport habe ich gelernt, mich durchzusetzen. Zur Not auch mit Ellbogen.

Das heißt, Ossis würden Sie heute nicht als Ossi identifizieren?

Sie wären sich wohl nicht sicher.

Laut einer aktuellen Umfrage ist fast die Hälfte aller früherer DDR-Bürger der Meinung, dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte. Zu welcher Hälfte gehören Sie?

Zur anderen. Es gab ein paar gute Seiten. Aber viel, viel mehr schlechte. Und je älter ich werde, umso kritischer sehe ich die DDR.

Im Leistungssport sind manche der Meinung: Mit Drill und Disziplin, wie sie in der DDR üblich waren, wären deutsche Athleten heute erfolgreicher.

Das kann man so nicht stehen lassen. Die das sagen, wissen nicht, wie unmenschlich das System war. Gerade gegenüber Kindern und Jugendlichen.

Wie war das mit Doping?

Ja, wie war das mit Doping? (Sie zögert.) Ein großes Thema. (Pause.) Es wurde gedopt. Staatlich gesteuert. Heute ist das Doping im Leistungssport privatisiert. Das ist der Unterschied.

Wie stehen Sie heute zum Staatsdoping der DDR?

Besonders verwerflich finde ich es, dass Trainer gewusst haben, was sie den Sportlern, den Kindern und Jugendlichen verabreichen. Die Kinder selbst und deren Eltern haben es oft nicht gewusst. Zum Glück bin ich selbst kein Dopingopfer. Manche Athleten haben einen immensen Schaden davongetragen. Nach der Wende wurde da einiges unter den Tisch gekehrt.

Sie haben auch Pillen bekommen?

(Pause.) Da gab es ein bestimmtes System. Aber da will ich nicht drauf eingehen, das ist zu komplex.

Sie tun sich schwer, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen, oder?

Das liegt daran, dass alles, was ich jetzt dazu sage, wahrscheinlich nicht geglaubt wird. In der einen Richtung nicht, und in der anderen auch nicht.

Sie haben vorhin betont, dass Ihnen Ehrlichkeit wichtig ist.

Ich könnte dazu viele Anekdoten erzählen, aber die behalte ich lieber für mich.

Aber Sie können doch sagen, ob Sie Pillen bekommen haben oder nicht.

Ja, ich habe welche gekriegt.

Wussten Sie, was Sie da bekamen?

Ich wusste es. Nicht die Trainer, sondern ältere Sportler haben mir es gesagt. Deshalb habe ich die Pillen nicht genommen. Es war nicht einfach, aber ich habe einen Weg gefunden.

Das heißt, Ihre ausbleibenden Erfolge könnten auch damit zu erklären sein?

Ich weiß es nicht. Aber ich wollte nie eine Männerstimme haben. Oder so eine Figur. Beispiele im Schwimmen gab es ja genug.

Haben Sie den Eindruck, dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen wurden?

Nicht ausreichend. In einem Fall habe ich vor Gericht eine Aussage gemacht. Aber das ist gegen eine Geldstrafe eingestellt worden. Gewisse Leute sind immer noch im Sport, als Trainer oder in anderer leitender Funktion. Das finde ich nicht richtig. Als Sportler konnte man recht gut unterscheiden: zwischen denen, die rücksichtslos waren und sich keine Gedanken um die Gesundheit der Sportler gemacht haben, und denen, die das nicht so strikt umsetzten und den Sportlern hinter vorgehaltener Hand eben nicht alles verabreichten.

Können Sie nachvollziehen, dass sich früher erfolgreiche DDR-Athleten bis heute weigern, Doping-Gaben zuzugeben, wie etwa die heutige ZDF-Sportmoderatorin Kristin Otto, die bei Olympia 1988 in Seoul sechs Goldmedaillen gewann?

Ich kann nur für mich sprechen.

Ich möchte nur wissen, ob Sie nachvollziehen können, dass man leugnet, obschon jeder weiß, dass es anders war.

Ich könnte mir vorstellen, dass man leugnet, weil einen so eine Aussage über Doping auch schädigen kann, privat oder beruflich. Schauen Sie zum Beispiel frühere Radsport-Größen an, die geben auch nichts zu. Da steckt das Finanzielle dahinter. Insofern könnte das ein Grund sein, nicht so frei und offen damit umzugehen. Letztlich kennt nur der Betroffene die Wahrheit und muss damit leben. Es ist sehr schwer, dazu etwas zu sagen.

Letzte Frage: Wenn in den nächsten wieder die Bilder vom Mauerfall zu sehen sind, können Sie sich vorstellen, dass Sie da von einem Glücksgefühl erfüllt werden?

Von Glücksgefühl will ich nicht sprechen. Ich finde das, was damals passiert, immer noch sehr beeindruckend und bin froh, dass es so gekommen ist. Ich bin aber auch froh darüber, dass ich die DDR erleben durfte, auch wenn das vielleicht komisch klingt. So habe ich beide Seiten kennengelernt.