Regensburg
Schneebergers Auftritt: Diamant im Bespaßungs-Blitzlichtgewitter

05.02.2023 | Stand 15.09.2023, 1:45 Uhr
Florian Sendtner
Gisela Schneeberger las im Theater am Bismarckplatz zwei rabenschwarze Erzählungen von Eugen Roth und Elke Heidenreich −Foto: altrofoto.de

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann mit dem Dampfer in den Hafen von New York einfährt und schon mit seinem Koffer an Deck zur Ausschiffung bereitsteht, merkt er bestürzt, dass er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hat.

So kommt Kafkas Amerika-Roman ins Rollen, denn es versteht sich von selbst, dass sich die Suche nach dem Regenschirm schwierig gestaltet; als erstes verirrt sich Karl Roßmann in dem labyrinthischen Bauch des Schiffes, das ihm jetzt auf einmal schrecklich groß erscheint. Kafka ist der reinste Kindergeburtstag gegenüber der Erzählung „Der Regenschirm“ von Eugen Roth. Diese „recht traurige Geschichte kennt kein Mensch“, wie Gisela Schneeberger am Samstag im nicht ganz ausverkauften Theater am Bismarckplatz sagte. Um sie dann vorzulesen, in voller Länge und in ihrer ganzen Unerbittlichkeit. Der Regenschirm ist hier kein Requisit mehr, sondern der obskure Held der Handlung. Und sein Vergessenwerden ist bei Eugen Roth von einer Unausweichlichkeit, die man nur tödlich nennen kann.

Beste Texte sind rabenschwarz

Eugen Roth – ist das nicht dieser „populäre Autor meist humoristischer Verse“, wie es im Lexikon heißt? Ja, so hatte man ihn am liebsten. Seine besten Texte wie die rabenschwarze Erzählung „Der Regenschirm“ von 1938 kehrte man deshalb geflissentlich unter den Teppich.

Eine ausgezeichnete Idee von Gisela Schneeberger, dieses „Zeitdokument des kargen Lebens“ der Nachkriegsjahre (nach dem 1. Weltkrieg) in ihr Leseprogramm „Kindheitsgeschichten“ aufzunehmen. Schneebergers Lesung wiederum passte wunderbar in die Reihe „Große Namen – große Texte“, in der das Theater Regensburg in lockerer Folge literarische Programme und Lesungen von namhaften Schauspielern und – in Kooperation mit der Buchhandlung Dombrowsky und Bücher Pustet – bekannten Autoren präsentiert.

Ziemlich genau hundert Jahre ist sie her, die gute alte Zeit, in der Eugen Roths Geschichte spielt, und natürlich spielt sie in der Welthauptstadt der Gemütlichkeit, in München. Der vierzehnjährige Jakob Kögel wird von seiner Mutter über die Pfingstfeiertage zur Tante Berta nach Grafing verschickt, und die Mutter verdonnert den schüchternen Knaben dazu, bei dem strahlenden Pfingstwetter einen Regenschirm mitzunehmen, denn „eine rechte Reise“ sei „ohne solches Rüstzeug nicht zu bewerkstelligen“.

Blick in verkorkste Beziehung

Der arme Jakob lässt den Schirm, diesen „tückischen Teufel“, dieses „schwarze Ungetüm“, schon beinah stehen, noch bevor er die Fahrt angetreten hat, und seine Mutter („ein böses Weib war sie“) droht ihm schlicht, ihn umzubringen, wenn er den teuren Schirm nicht wieder nachhause bringe. Eugen Roths Text vereint den akkuraten sozialen Naturalismus einer Lena Christ mit kafkaesk (spät-)expressionistischen Nebelschwaden, in denen der verfluchte Regenschirm den geschundenen Knaben am Ende über den Hades geleitet, als „starker und sicherer Führer in der Finsternis“.

Angesichts dieser Herausforderung wirkte die zweite Erzählung, die Gisela Schneeberger las, wie eine Erholung. Dabei sind „Die schönsten Jahre“ von Elke Heidenreich die durchaus abgründige, tieftraurige und nichtsdestotrotz immer wieder lustig aufblitzende Geschichte einer reichlich verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung. „Bei uns zuhause wurde nicht gelobt“, sagt Nina, „Na also, es geht doch!“, war das höchste der Gefühle, Ohrfeigen waren die einzigen Berührungen.

Was tun mit solch einem Biest von einer Mutter? Sie tunlichst aus seinem Leben heraushalten, den Kontakt auf Pflichtbesuche beschränken! Aber dann sitzt Nina auf einmal mit ihrer unausstehlichen Mutter im Auto und fährt nach Mailand, der Wahrheit entgegen, und als die Mutter auf die unausweichliche Frage der Tochter antwortet: „Natürlich habe ich meinen Pass dabei!“, da kommt Gisela Schneebergers unnachahmlich konsternierte Modulation so wohldosiert zum Einsatz, dass es eine wahre Freude ist.

Ansonsten aber: Eine schnörkellos-lakonisch-treffsichere Lesung ohne jedes anbiedernde Drumherumgequatsche, die beiden erstklassigen Texte würden das auch partout nicht vertragen. Ein Abend wie ein einsam funkelnder dunkler Diamant inmitten des endlosen Bespaßungsblitzlichtgewitters.