Die Agentur ihres Vertrauens war Reuters. Dort ging am 20. April 1998 ein achtseitiges Schreiben ein, das rasch als authentisch eingestuft wurde. Absender: die RAF, die fast drei Jahrzehnte lang für beträchtliche Unruhe zunächst in der alten Bundesrepublik, dann auch noch im neuen, wiedervereinigten Deutschland sorgte. Thema: die Selbstauflösung der RAF. Der Duktus des Textes war so pseudo-präzise, so klirrend-pathetisch, wie man es von zahlreichen Bekennerschreiben und „theoretischen“ Auslassungen der Gruppe gewohnt war. Im Zentrum standen nur scheinbar nüchterne Sätze, die des Kommentars bedürfen, wenn man die RAF-Mentalität begreifen will.
„Vor fast 28 Jahren“, hieß es da, „am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF.“ In einer Befreiungsaktion? Gemeint war die „Befreiung“ von Andreas Baader, der für die legendäre Frankfurter Kaufhausbrandstiftung verurteilt worden war. Die Haftbedingungen waren damals aber noch relativ milde; nicht zu vergleichen mit der späteren „Festung Stammheim“ und der dort praktizierten „Isolationsfolter“, wie es RAF-Propagandisten nannten, um über das Ticket „Empörung“ neue Mitglieder und Sympathisanten zu rekrutieren. Am 14. Mai 1970 hatte Andreas Baader Ausgang – zu Studienzwecken. Er wurde also von dem Kommando nicht heldenhaft aus einem Gefängnis herausgeholt, sondern aus einer kleinen Bibliothek.
Und doch ging bei der „Befreiung“ einiges schief – es gab einen Schwerverletzten. Ulrike Meinhof, eben noch Star-Kolumnistin der „konkret“ und Darling der Hamburger Bussi-Society, kommentierte das knapp einen Monat später in einem konspirativen Gespräch der neuen RAF-Führung (außer ihr: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Horst Mahler) mit einer französischen Journalistin in der Kälte, die zu ihrem Markenzeichen wurde, so: „Natürlich darf geschossen werden.“ Freud-Kenner wissen, dass man bei solchen Aussagen, wenn man sie verstehen will, nur auf den Sachgehalt und nicht auf Bejahung oder Verneinung achten darf. Den Satz könnte man also auch so dechiffrieren: Ich bin entsetzt, wie mein neues Leben im Untergrund beginnt. Kälte als Selbstschutz; und eine Pseudo-Authentizität, die in Wahrheit eine große Lüge verbrämen soll. Die Lüge nämlich über eine angeblich historische Mission und eines Rechts auf Widerstand, der ruhig auch gewalttätig sein darf.
„Natürlich darf geschossen werden.“Ulrike Meinhof
Von Anfang an war die RAF-Geschichte nicht nur von Gewalt gekennzeichnet, sondern auch von einem erbitterten Streit um Worte. Als wäre die Semantik im Zweifel wichtiger als die Realität. Als wäre es nicht objektiv komisch, wenn sich eine winzige Gruppe „Rote Armee“ nennt, wenn auch später mit dem Zusatz „Fraktion“. Und als müsste man nicht misstrauisch werden, wenn Medien und staatliche Institutionen stets nur von der Baader-Meinhof-„Bande“ sprechen, als handele es sich nur um eine kriminelle Vereinigung, und nicht, viel schlimmer, um eine terroristische mit politischen Zielen.
Der Antisemitismus verbindet
Die Kontrahenten waren sich übrigens von Anfang an näher, als ihnen lieb war, und wurden sich immer ähnlicher. Die RAF wollte dem Staat durch ihre Aktionen die demokratische Maske vom Gesicht reißen, damit die „faschistische Fratze“ sichtbar wird. Das gelang zum Teil, weil der Staat, um sich zu wehren, Gesetze sukzessive verschärfte und Grundrechte zum Teil außer Kraft setzte. Staatliche Institutionen wiederum wollten den terroristischen Kern mancher Post-68er-Gruppen sichtbar machen, indem „agents provocateurs“ aus den Geheimdiensten sie mit Waffen, Sprengstoff und Know-how versorgten und sie zu Anschlägen ermunterten, damit offenbar würde, was sie doch angeblich immer schon planten.
„Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen.“Ulrike Meinhof
Der zweite zentrale Satz der Auflösungserklärung nach der historischen Einordnung lautete: „Heute (gemeint ist der 20. April 1998) beenden wir dieses Projekt.“ Projekt? Das ist befremdlicher Sozialarbeiter-Sprech in Anbetracht einer Blutspur mit Dutzenden Toten. Von diesen Toten – führenden Industriellen und Bankiers, Staatsanwälten und Richtern und ihren jeweiligen Begleitpersonen, also Fahrern und Bodyguards – ist nicht die Rede. Sehr wohl aber von den eigenen 24 Toten: Opfer von Schusswechseln mit der Polizei, von Hungerstreiks und Suiziden. Dass die Auflösungserklärung der RAF ausgerechnet am 20. April, Hitlers Geburtstag, veröffentlicht wurde, mag ein bizarrer Zufall sein. Die unübersehbare Nähe des düsteren RAF-Toten-Gedenkens zu den pompösen Märtyrer-Feiern der Nazis ist es nicht. Nicht nur der Antisemitismus verbindet die Extreme, auch die Überzeugung von einer historischen Mission – die Herstellung eines neuen Menschen für eine neue Gesellschaft – ist ähnlich. Und bei beiden heiligt der Zweck die Mittel. Der „alte Adam“ verdient kein Mitleid, sein Schmerz spielt keine Rolle. Im Zweifelsfall ist er nur eine „Charaktermaske“, die ausgelöscht werden kann. Dazu, unnachahmlich, Ulrike Meinhof: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen.“
Jede Form von Vernichtung setzt die Entmenschlichung des anderen voraus. Zu den größten Rätseln der RAF-Geschichte gehört es, dass ausgerechnet Meinhof, die Hardlinerin, im Bürgertum, aus dem sie stammt, das meiste Verständnis genießt. Als wäre sie das mitfühlende Lamm gewesen, das dummerweise in eine Horde reißender Wölfe geraten ist. Tatsächlich geriet Ulrike Meinhof in der RAF zunehmend in die Isolation. Der Grund war aber, dass Baader und Ensslin ihr Ansatz zu radikal, ja unheimlich war und sie manche der von ihr verantworteten Aktionen, etwa den Anschlag auf das Springer-Hochhaus, nicht mittragen wollten.
Von der Mythisierung der Gewalt
Am 20. April 1998 hieß es im dritten zentralen Satz der Auflösungserklärung: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“ Ja, aber schon lange vor dem Ende der RAF-Geschichte entstand der RAF-Mythos. Aus dem Terror wurde ein Pop-Phänomen.
Ein Zyniker könnte sagen, angesichts der längst zahllosen Spielfilme, Romane, Dokumentationen, Ausstellungen etc. sind die insgesamt sechzig Toten, die der Krieg zwischen der RAF und der Bundesrepublik kostete, überschaubar. Und doch ist es erstaunlich und beunruhigend, dass diese Toten bei der Verwandlung des RAF-Terrors in ein Pop-Phänomen so wenig zählen, ja dass man sie sogar so genießt, als sitze man wieder im Kino und schaue „Bonnie and Clyde“ oder „Natural Born Killers“. Andreas Baader war übrigens „Bonnie and Clyde“-Fan und schaute sich so manche Pose von Warren Beatty ab. Wer sich bei der Verwandlung von RAF in Pop an der Blutspur nicht stört, der muss Peter Handkes erschrockenes Diktum missverstanden haben, James-Bond-Tote seien keine wirklichen Toten und deshalb dürfe man auch ruhig lachen, wenn sich jemand bei einem Treppensturz das Genick breche.
Die RAF-Toten waren, daran kann kein Zweifel bestehen, wirkliche Tote. Und wer sich dem zutreffenden Hinweis ausliefert, der RAF-Terrror sei ja, anders als der rechte oder dschihadistische Terror, nie wahllos gewesen, und selbst die toten Fahrer und Polizisten seien gewissermaßen nur Kollateralschäden, wie es sie auch bei gezielten Drohnenangriffen der Amerikaner gebe, der begibt sich auf einen gefährlichen Pfad. Als sei Hanns Martin Schleyer, durch seine frühere SS-Mitgliedschaft und seine Tätigkeit im Unternehmerverband, so schuldig, dass man seinen Tod (durch Genickschuss) ruhig in Kauf nehmen dürfe.
Viele der Filme und Romane über die RAF oder einzelne ihrer Mitglieder sind zweifellos große, differenzierte Kunst – und doch bleibt ein fader, fahler Nachgeschmack. Er gilt der maßlosen Aufmerksamkeit, die man den Tätern und ihren Motiven in akribischer Exegese widmet, und einer (ungewollten?) Mythisierung und Pathetisierung der Gewalt. Außerdem: Nimmt man die Perspektive des Täters ein, erzeugt man Verständnis – ob man will oder nicht. Was passiert, wenn ein Film über die RAF oder die Entführung der Landshut einfach nur spannend ist? Und kann man der Gefahr aus dem Weg gehen, wenn man sich, wie Heinrich Breloer in seinem „Todesspiel“, der Entführung und Ermordung Schleyers in einem Doku-Drama nähert? Ist gerade dieser dokumentarische Gestus, wenn er sich mit Fiktion mischt, besonders fatal?
Es gibt Dinge, über die man nur schwer sprechen kann. Dann soll man besser schweigen, wusste schon Wittgenstein. All die (un)freiwilligen Mythisierer der RAF haben sich nicht daran gehalten.
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