Psychologie
Das lehrt uns „Der kleine Prinz“

Das Kinderbuch von Antoine de Saint-Exupery lässt uns das Leben mit anderen Augen sehen. Unser Experte teilt seine Gedanken.

06.04.2018 | Stand 16.09.2023, 6:11 Uhr
Sebastian Sonntag

Das Buch „Der kleine Prinz“ wurde schon 1943 in New York veröffentlicht. Foto: Karl Rauch Verlag

Man sieht nur mit dem Herzen gut!“ Ich glaube, man muss keine Leseratte sein oder ein Bücherwurm, um dieses berühmte Zitat zu kennen, und auch um seine Herkunft aus dem Büchlein „Der kleine Prinz“ zu wissen. Dass dieses – im umfassenden Sinne – märchenhafte Buch in diesem Jahr und Monat den 75. Tag nach seiner Ersterscheinung am 6. April 1943 in New York feiern darf, ist ein würdiger Anlass, diesem Werk und seinem Autor einige Gedanken zu widmen.

Schmerzhafte und traumatisierende Erlebnisse sind wie ein Nährboden

Bei Antoine de Saint-Exupery’s Lebensgeschichte begegnet mir wieder etwas, das mich jedes Mal neu berührt und fasziniert. Auch in seiner Kindheit stecken so viel Schmerz und Trauer. Bereits als vierjähriger Bub verlor er seinen Vater durch einen plötzlichen Tod. Wenige Jahre später musste er einen ebenso unerwarteten Verlust durch das Sterben seines jüngeren Bruders bewältigen. Wie bei so vielen Menschen, die im späteren Leben Überragendes und Großartiges geschaffen haben, scheinen diese schmerzhaften und traumatisierenden Erlebnisse wie ein Nährboden geworden zu sein, auf dem besonders tiefgründende und berührende Werke entstehen. Genauer muss man wohl sagen, dass es nicht die traumatischen Erfahrungen sind, sondern die Kraft und die Stärke, die daraus erwachsen, dass man sein Leben trotzdem weiterführen muss. Immer wieder bestätigt sich für mich die in vielen Therapie-Begegnungen erfahrene Erkenntnis, dass wir für unser Leben am meisten da lernen, wo wir uns nicht freiwillig den Herausforderungen stellen, sondern keine andere Chance haben, als uns durchzukämpfen.

Gerade bei solchen Künstlern, Musikern, Literaten, Malern oder Bildhauern begegnet man so ganz außergewöhnlichen Werken und Zeichen, die oft wie aus einer anderen Welt wirken. Sie sind gewachsen auf einem Boden, der mit der ganzen Härte und oft Gnadenlosigkeit der Wirklichkeit und des Lebens durchwoben ist, an der man sich nicht vorbeimogeln kann.

„Für unser Leben lernen wir am meisten da, wo wir uns nicht freiwillig den Herausforderungen stellen, sondern keine andere Chance haben, als uns durchzukämpfen.“Sebastian Sonntag, Experte

In der neueren Therapieforschung befasst man sich zunehmend mehr mit dieser Frage, warum Menschen daran nicht zerbrechen, sondern eine unerwartete und erstaunliche Kraft fürs Leben und Weiterleben finden. Leider zerbrechen auch viele daran. Man kann nur von einem gnädigen Schicksal sprechen, wenn es Menschen gelingt, sich aus solchen Tiefen ans Licht zu kämpfen.

Die Geschichte lehrt etwas fürs Leben

Ich kann mir nur aus dieser besonderen Lebensgeschichte von Antoine de Saint-Exupery erklären, wie es möglich war, solche Worte und Geschichten zu finden und entstehen zu lassen, die einfach unmittelbar das Herz berühren. Die Geschichte des kleinen Prinzen, der aus einem fernen Stern zu unserer Erde kommt, über den Zwischenstopp auf mehreren Planeten mit merkwürdigen Gestalten, kann einen Leser nicht völlig unberührt lassen. Da ist zu viel an solcher Weisheit und Zartheit, die Existenz des Menschen zu durchleuchten und ohne Moralisieren Schwächen und Merkwürdigkeiten unserer Lebensart aufzudecken. Allein die geniale Charakterisierung der Planetenbewohner, denen der kleine Prinz begegnet, muss jedem Leser die Scheuklappen von den Augen nehmen. Dann kann man sich nur selbst befragen, inwiefern man selber in der Gefahr sein könnte, sein Leben so sinn- und bedeutungslos zu verplempern und zu verlieren, wie einer dieser traurigen Gestalten.

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Ob diese absolute Abhängigkeit von Bewunderung und Anerkennung, das Ausgeliefertsein einer sinnlosen Bedürfnisbefriedigung und einem wertlosen Beschäftigungsdrang, die hässliche Fesselung durch Habgier, in jedem dieser Typen hält der Autor uns einen Spiegel vor. Und die Geschichten sind so zeitlos wie die Planeten. Aber noch berührender und tiefgreifender sind die Gedanken und Fragen des Prinzen, wenn es um so wunderbare Wirklichkeiten geht wie Liebe, Vertrauen, Freundschaft und Lebenssinn. Mit so schlichten und wunderschön einfältigen Fragen gelingt es Antoine de Saint-Exupery, über seinen kleinen Prinzen ein nachdenkliches Innehalten und Überprüfen der bisherigen Ansichten und Meinungen über unser Leben in Bewegung zu bringen.

Freiräume für das eigene Denken und die eigenen Fantasiebilder

Ich kenne kaum eine zartere und feinfühligere Betrachtung über Liebe und Vertrautheit als die Geschichte des kleinen Prinzen über seine Rose und seine Begegnung mit dem Fuchs. Wie banal und schal wirken für mich dagegen viele andere Bücher und Traktate über diese menschlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse. Wo heute viel versucht wird, gerade zum Thema Liebe möglichst gebrauchsfähige und aufklärerisch sachliche Darstellungen und Ausführungen an den Mann und die Frau zu bringen, wirken die Worte des kleinen Prinzen wie ein hauchdünnes wundersames Gespinst von Bildern und Worten.

Und in so vielem, was er in symbolischen Vergleichen bringt, lässt er Freiräume offen für das eigene Denken und die eigenen Fantasiebilder. Ich glaube, es ist etwas, was unsere Zeit und unsere Welt besonders brauchen: Ein Vertrauen in jeden Menschen, dass in ihm so vieles ist, um verstehen zu können, wenn es um die Grundwahrheiten unseres Lebens geht. Man muss nicht alles so aussprechen und aufklärerisch darlegen, damit die Menschen es kapieren. Man sieht nur mit dem Herzen gut.

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für ein Testabo der Sonntagszeitung finden Siein unserem Aboshop.