Regensburg
Der neue Tanz-Chef in einem berührenden Seelen-Striptease

26.09.2022 | Stand 15.09.2023, 3:34 Uhr
Hautnah, nackt, menschlich: Wagner Moreira in seinem Solo am Haidplatz. Der Rücken wirkt wie eine Skulptur. −Foto: Pawel Sosnowski

Wagner Moreira, neuer Chef der Regensburger Tanz-Company, zeigt sich hautnah, nackt und menschlich: In seinem Solo umkreist er den Freitod seines Vaters und feiert das Leben.

Am Ende wirbelt Wagner Moreira, gehüllt in viele Quadratmeter knisterndes Cellophan, über die Bühne des Theaters am Haidplatz. Wie Wolken bauscht sich die luftige Folie, wie ein König im Auge des Sturms dirigiert der Tänzer die wogende Schleppe. Zu dem emblematischen Bild rollt drohendes Grollen durch den Saal, und für Minuten hört der rauschende Beifall nicht auf.

Wagner Moreira tanzt eine Stunde lang um sein Leben und umkreist dabei spielerisch, heiter, poetisch und nachdenklich den Freitod seines Vaters. „I play de(a)d“: Bereits der Titel des Solos drückt aus, wie virtuos der Künstler die Sprache beim Wort nimmt.

Anlass für den Abend (Konzept: Thomas Schütt), so erklärt es Moreira dem Publikum gleich eingangs, ist sein 45. Geburtstag, der auch seine 30 Jahre Bühnenkarriere markiert. Eine zentrale Person aber kann beim Fest nicht dabei sein: „Weil sie sich das genommen hat, was uns allen das Wichtigste ist – das Leben.“

Wagner Moreira war 22, als sich der Vater umbrachte. Freitod nennt es der Sohn. Er brauchte lange, um sich Verlust und Schmerz zu stellen und seinen Frieden zu machen mit dem Abschied von dem Menschen, der ihm Antrieb und Rückhalt war. „Ohne Papa“, sagt er, „wäre ich nicht Tänzer geworden.“

Klammernde Erinnerungen

Dank der Ermutigung aber traute sich der kleine Wagner in der brasilianischen Stadt Barbacena in die Tanzschule unter lauter Mädchen, dann an die Royal Academy of Dance London und an die Palucca Tanz-Hochschule Dresden, machte international Karriere und kam jetzt als Chef der Tanz-Company ans Theater Regensburg.

Zum Auftakt der ersten Saison in der neuen Stadt öffnet sich Wagner Moreira vollständig, zeigt sich hautnah, nackt, berührbar, menschlich. Die Bewegungen zur perlenden Musik von Eric Satie bleiben fließend, manchmal wirkt der Körper wie eine Skulptur. Nichts ist hier aufgesetzt, und trotz des wuchtigen Stoffs, trotz der großen Fragen, die verhandelt werden, widersteht das Solo dem Pathos. „C’est la vie“, sagt man in Frankreich leise-melancholisch. „Der Tod gehört zum Leben“, heißt die Botschaft bei Wagner Moreira.

Der Abend beginnt wie eine lockere Party. Das Geburtstagskind kommt in den Saal, busselt einen Gast, winkt einem anderen und bläst einen Luftballon auf. Viel mehr Requisite braucht Moreira nicht, außer vielleicht den Wäscheklammern, die er sich an den Arm steckt, wie Erinnerungen, an die man sich klammert.

Moreira tippt Stationen seines Lebens an. Er zieht sich zurück in eine zart beleuchete Nische, den „Raum der Erinnerung“ (Licht: David Herzog, Video: Petros Kolotourios). Er driftet auf einer Wolke aus Cellophan ins Gestern. Er stöbert durch Fotos, spielt Kinderspiele aus Barbacena, ruft Weggefährten auf. Durchgestreckt, die Linke an der imaginierten Stange, deutet er eine Plié an, als kleine Verbeugung vor seiner Ballettlehrerin. Mit ein paar rasch auf den Boden getackerten Schritten zitiert er seine Anfänge: Stepptänzer wollte er ja eigentlich werden.

Die Stimmung kippt immer wieder jäh, von fröhlich zu bestürzend. Scharf fühlbar wird der Kontrast bei einem Spiel: Wagner Moreira fällt zu Boden und stellt sich tot, so lange, bis das Publikum das Zauberwort „Lebendig“ ruft und er schlagartig aufspringt. Ein Dutzend Mal wechselt Moreira so zwischen tot und lebendig – bis er, da können die Zuschauer rufen, so lange sie wollen, reglos liegen bleibt: tot.

Das will er lange tanzen

Das Publikum ist Teil des Ganzen: Die Ansage ist programmatisch zu verstehen. Moreira bezieht die Zuschauer ein. Für „Love Letters“ im April 2023 beginnt er bereits, ihre Liebesgeschichten zu sammeln.

„I play d(e)ad“, 2017 uraufgeführt, erhielt 2019 den Sächsischen Tanzpreis. Heute, bekennt Moreira, fällt ihm das Solo körperlich schwerer, aber emotional leichter. „Ich will es noch tanzen, wenn ich hoffentlich sehr alt geworden bin.“