Kultur
Ulrike Lorenz: „Nur so halten wir Goethe lebendig“

21.03.2023 | Stand 15.09.2023, 1:05 Uhr
Matthias Thüsing
Ulrike Lorenz, Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, will 2026 das Goethehaus sanieren. Mit Großprojekten hat die profilierte Kunstwissenschaftlerin Erfahrung: Unter ihrer Leitung wurde 2019 die Kunsthalle Mannheim neu gebaut; die Direktorin warb 50 Millionen Euro ein. −Foto: Paul-Philipp Braun

Ulrike Lorenz, frühere Direktorin des Kunstforums Ostdeutsche Galerie in Regensburg, plant als Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar millionenschwere Bauvorhaben. Im Interview sagt sie, warum sie mit Kritik rechnet.

Sie sind Kunstwissenschaftlerin, an Inhalten interessiert – aber als Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar sind Sie plötzlich Weimars größte Bauherrin. Ist das mehr Last oder Lust ?

Ulrike Lorenz:Die Klassik Stiftung Weimar bewahrt herausragende Überlieferungen der deutschen Kultur, und das ist ja zunächst einmal ein immaterielles Kulturerbe, nämlich Literatur, Werke der Poesie und Philosophie. Aber im Alltag sind wir natürlich zuerst für Bauwerke und Sammlungen verantwortlich, die in engem Zusammenhang mit der Epoche Weimarer Klassik stehen.

Wo liegt die enge Beziehung?

Lorenz:Der letzte große Brand im Schloss 1774 löste in gewissem Sinne diese Epoche erst aus. Plötzlich war das Machtzentrum weg. Der Hof zog sich in die Sommerresidenzen zurück. Die Regierung saß im Fürstenhaus auf der anderen Seite vom Platz, der Adel lebte in der Stadt. Und in diesen Umbruch hinein platzte das Phänomen Goethe. Es entstand etwas völlig Neues, nicht nur architektonisch. Schon deshalb gehörendie Parks und Gebäude der Weimarer Klassikunbedingt zu unserem Stiftungsauftrag. Und kein Wunder ist, dass die größten „Exponate“ auch die meisten Investitionen und Nerven kosten.

Aktuell größte Baustelle ist das Stadtschloss. Liegen Sie trotz Risiken wie Inflation oder Handwerkermangel im Plan?

Lorenz:Im Moment noch, ja. Wir werden im April die restaurierte Schlosskapelle wieder zugänglich machen. Rundherum wird in den nächsten Jahren weiter heftig gebaut. Für die Sanierung der vier Flügel, die sich in unserem Eigentum befinden, stehen 150 Millionen Euro zur Verfügung.Die Risiken sind sehr hoch, dennoch müssen wir mit dem Budget auskommen.

Wovon lassen Sie sich bei der Schloss-Sanierung leiten?

Lorenz:Die Grundfrage ist für uns: Was kann ein Schloss im 21. Jahrhundert sein? Die Antwort ist klar: Es ist ein öffentlicher Ort, der dem heutigen Souverän gehört. Wir wollen den Komplexso lebendig machen, wie nur möglich. Ausstellungsräume, Veranstaltungssaal, Bildungswerkstätten zielen auf unterschiedliche Bedürfnisse. Der Schlosshof soll durch Programm und Partnerschaften, zum Beispiel mit dem Deutschen Nationaltheater, und auch als Rückzugsort für alle geöffnet werden.

Lesen Sie mehr über die Arbeit von Ulrike Lorenz:Profilwechsel für die Klassik Stiftung Weimar

Welche historischen Funktionen wollen Sie herausarbeiten?

Lorenz:Im Museumsbereich zeigen wir das Schloss als einen Ort, an dem die Epoche Goethes diskutiert und gefördert wurde. Spätere Um- und Einbauten, die zahllosen Kämmerchen der fürstlichen Regierung des späten 19. Jahrhunderts sind weniger interessant. Im Ostflügel wurden so unter den Argusaugen der Denkmalpflege die ältesten, noch mittelalterlichen Teile freigelegt. Da ist ein völlig neuer, atemberaubender Raum entstanden, den wir Passage nennen. Hier werden Besucher künftig ankommen undeinen ersten Wow-Effekterleben. Das Treppenhaus von Heinrich Gentz wird in seine ursprüngliche Funktion zurückversetzt, eine wichtige Richtungsentscheidung in meiner Verantwortung. Es ist ein einzigartiges Denkmal des Frühklassizismus, das wir wieder erlebbar machen.

2026 sollen die Ausstellungen im Schloss öffnen, parallel das Goethehaus schließen. Ist die Ablösung bewusst gesetzt?

Lorenz:Ja, vorausgesetzt, die Sanierung des Goethehauses kann über eine Sonderinvestition gesichert werden. Das Goethehaus ist Gott sei Dank nicht baufällig, weil es regelmäßigen Bauunterhalt gab. Doch Teile der Heizungsanlage und Haustechnik sind von 1913, die müssen jetzt wirklich modernisiert werden.

Wird die Sanierung das vertraute Haus verändern?

Lorenz:Es werden liebgewordene Inszenierungen aus DDR-Zeiten – die eine oder andere frei erfundene Biedermeiermöblierung, die Topfpflanzen und Troddelgardinchen – verschwinden. Seit 2016 haben wir ausnahmslos alle Dokumente in einem Forschungsprojekt zur Hausgeschichte aufgearbeitet. Wir wissen mehr über die Räume als jede Generation vor uns. Die Musealisierung des Hauses hat jede Epoche in neue Richtungen vorangetrieben. So ist das Goethehaus zu einem hochkomplexen Überlieferungszusammenhang geworden, den wir kenntlich und bewusst machen wollen.

Lesen Sie mehr über Ulrike Lorenz:„Man muss kühn denken“

Sie restaurieren also nicht zurück zu Goethe, sondern zeigen auch die Veränderungen im Haus über 200 Jahre hinweg?

Lorenz:Das begann ja schon in der 50-jährigen Nutzung durch Goethe selbst. Er hat das Haus ständig verändert, seinen vielfältigen Interessen angepasst. Das wollen wir zuallererst zeigen. Für viele Räume haben wir sehr detaillierte Informationen, für andere weniger. Hier können wir an die Museumszeit ab 1885 erinnern.

Abseits aller Debatten um Troddelgardinchen: Erwarten Sie Widerstände ihres Publikums?

Lorenz:Ja, wir rechnen mit einer kritischen Begleitung. Allein schon unsere Verantwortung, eine weitgehende Barrierefreiheit herzustellen, muss Debatten hervorrufen. Offen ist, ob wir es dem Denkmal zumuten, einen Aufzug bis zu Goethes Arbeitsbereich einzubauen, selbst wenn er vom klügsten Architekten geplant wird. Tun wir es, um allen Menschen Zugang zu ermöglichen, oder lassen wir es bleiben, um das Denkmal zu schonen? Beides wird einen Aufschrei erzeugen. Und das ist nur ein Beispiel. Wir haben viele Entscheidungen zu treffen und wollen dies mit größtmöglicher Sorgfalt tun. Aber generell gilt natürlich auch: Es kann einem Museum von nationaler und internationaler Bedeutung ja nichts Besseres passieren, als gesellschaftliche Debatten anzustoßen. Denn nur so halten wir Goethe lebendig.

Ulrike Lorenz und die Weimarer Klassik

Sanierung:Mit Stadtschloss und Goethehaus beschäftigen die Klassik Stiftung Weimar zwei millionenschwere Vorhaben. Die Gebäude sollen der Gesellschaft stärker als bisher zur Verfügung stehen, auch von externen Partnern genutzt werden können.

Präsidentin:Ulrike Lorenz leitete 2004 bis 2008 das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg. In Mannheim verantwortete sie als Direktorin 2018 den spektakulären Neubau der Kunsthalle. Seit 2019 führt sie die Klassik Stiftung Weimar.