brainWeek
Wie in einer Rüstung aus Stein: Pflege-Azubis lernen mehr über das seltene Locked-In-Syndrom

15.03.2024 | Stand 15.03.2024, 17:00 Uhr
Dagmar Fuhrmann

Karl-Eugen Siegel las aus dem Tagebuch seines Freundes Friedemann Knoop vor. Dieser erlitt das Locked-In-Syndrom. Die Neumarkter Pflege-Azubis lauschten ihm gespannt. Foto: Dagmar Fuhrmann

Wenn das menschliche Gehirn durch Krankheit oder Unfall Schaden nimmt, dann kann das gravierende Auswirkung auf das weitere Leben des Betroffenen haben. Die brainWeek hat sich in dieser Woche in Form von Einblicken, Diskussionen und Wissensaustausch mit diesem Thema beschäftigt.

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Eine extreme Form der Einschränkung ist das Locked-In-Syndrom (LiS), eine Art lebendig eingemauert sein, wobei das Bewusstsein und die geistigen Fähigkeiten voll erhalten bleiben. Karl-Eugen Siegel hat Auszubildenden zu Pflegefachkräften einen Einblick in den Alltag eines Betroffenen gegeben.

Azubis lernen, sich über Übungen in Patienten einzufühlen

Sein Ziel sei es, dem zukünftigen Pflegepersonal ein wenig die Perspektive der Betroffenen nahe zu bringen. Dazu forderte er sie zu einer ganz einfachen Übung auf. „Setzen Sie sich solange auf Ihre Hände, wie sie können.“ Nach einigen Minuten stellten die jungen Leute fest, dass die Grenzen zwischen Oberschenkel und Hand verschwinden. Dieses Gefühl sei ansatzweise eines der vielen Probleme, die ein LiS hervorruft.

Jemand, der das nach einem Hirnstamm-Infarkt erleben musste, ist Friedemann Knoop. Ihn hat Siegel bei der Gründung einer Selbsthilfegruppe kennengelernt. „Man spürt die große Lust am Leben“, sagte Siegel. Knoop hat ein Tagebuch geschrieben, aus dem Siegel vorlas. Es trägt den Titel „Lebendig eingemauert“ und berichtet von dem inneren Kampf zurück ins Leben.

Kritik am Medizinbetrieb

Darin schildert er seinen letzten Tag der Normalität, bevor er seinen Schlaganfall erlitt und in den folgenden sieben Monaten auf der Intensivstation ruhig gestellt wurde. Er konnte nur noch den rechten Daumen, die Augen und die Lider bewegen. Dabei wurde er von einem Traum verfolgt, der immer wieder auftauchte: Er war ein Ritter in einer steinernen Rüstung und sank unter Wasser. Dort unten traf er auf eine ganze Armee versteinerter Ritter.

Dabei gelte das ILS als extrem selten, informierte Siegel. Neuere Studien wiesen aber darauf hin, dass 40 Prozent der Patienten im Wachkoma in Wirklichkeit ein LiS hätten – ohne sich bemerkbar machen zu können. „Die Neurologen sind mit ihrer Diagnose oft zu schnell dabei“, kritisierte er wiederholt den Medizinbetrieb. Umso wichtiger sei es, dass das Pflegepersonal extrem aufmerksam sei. „Das sind Situationen, die in eurem Alltag eine Rolle spielen werden“, sagte Siegel den Auszubildenden.

Auf winzige Signale achten

Der Patient Knoop berichtet in seinem Buch, dass er seine Kaumuskeln in ganz geringem Maße benutzen konnte. Genug, um mit Zähneknirschen auf sich aufmerksam zu machen. Weil das Personal das Knirschen aber falsch verstand, wurde ihm eine Knirschplatte verordnet. Mit dem Ergebnis dass er noch lauter knirschen konnte, wie er in dem Buch mit viel Humor schildert. Sein Schlaganfall ist 20 Jahre her. Damals entwickelte sich gerade die Technik, die aus Bewegungen schriftliche Sprache macht. Es handelte sich um eine Brille mit Impulsumwandler, die an einen Bildschirm gekoppelt war. Nach vielen mühsamen Versuchen schaffte der Patient seinen ersten fehlerfreien Satz. Und der lautete: „Ich habe die Hosen voll.“

Was es bedeutet, selbstverständliche Dinge nicht mehr einfach machen zu können, konnte der Pflegenachwuchs an einigen Beispielen erfahren. Siegel wollte damit auch Verständnis dafür wecken, dass manche Patienten aggressiv reagieren.