Unglück
Eschede: 20 Jahre danach

Beim schwersten Bahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik sterben 101 Menschen. Das Leid der Familien ist geblieben.

03.06.2018 | Stand 16.09.2023, 6:10 Uhr
Peer Körner

An der Zugunglück-Gedenkstätte Eschede sind auf Betonstelen die Namen der tödlich Verunglückten genannt. Foto: Holger Hollemann/dpa

Am 3. Juni 1998 rast der ICE 884 auf seinem Weg von München nach Hamburg durch Niedersachsen. Kurz vor 11 Uhr kommt es an diesem warmen Sommertag in der Südheide zur Katastrophe. Bei Tempo 200 bricht kurz vor Eschede ein Radreifen und bleibt stecken. Weichen werden verstellt, das Gleisbett aufgepflügt, eine Brücke stürzt ein, entgleiste Waggons rasen in die Trümmer. 101 Menschen sterben beim schwersten Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik, rund 100 werden verletzt.

„Dann kam meine Tochter und hat gesagt: „Mutter setz dich hin. Klaus war in dem Zug.“Gisela Angermann, Hinterbliebene

Gisela Angermann hat ihren Sohn Klaus durch die Katastrophe verloren, der 29-Jährige wollte nach Hamburg. „Ich habe den Fernseher angemacht und gehört, dass eine Brücke auf einen Zug gefallen ist“, schildert die 80-Jährige den verhängnisvollen Tag vor 20 Jahren. „Dann kam meine Tochter und hat gesagt: „Mutter setz dich hin. Klaus war in dem Zug.“ Drei Tage nach dem Unglück haben sie im Krankenhaus die Maschinen abgeschaltet.“

Das Schicksal schlug hart zu

Heinrich Löwen hat am 3. Juni 1998 Frau Christl (50) und Tochter Astrid (26) verloren. „Ich habe die beiden früh am Morgen zum Bahnhof gebracht“, sagt der ergraute Niederbayer. „Dann sind sie in Nürnberg in diesen Zug gestiegen“, erinnert er. „Es waren damals Ferien. Ich habe meine andere Tochter betreut, sie ist behindert.“

„Das ist wie ein Phantomschmerz, es fehlt immer etwas. Eine intakte Familie wurde zerstört.“Heinrich Löwen

„Es gibt eine Zeit vor Eschede und eine Zeit nach Eschede in meinem Leben. Das war eine persönliche Zeitenwende“, schildert Löwen die Folgen. „Im Alltag tritt es zwar in den Hintergrund, doch ist es immer wieder präsent. Auch an Jahrestagen wie dem bevorstehenden holt es einen wieder ein“, sagt er. „Das ist wie ein Phantomschmerz, es fehlt immer etwas. Eine intakte Familie wurde zerstört“, erklärt er. „Es war eine extrem harte und schwere Zeit. Da hat die Arbeit für die Selbsthilfe Eschede sehr geholfen, der Kontakt mit anderen Betroffenen. Man hat versucht, etwas zu tun.“

Der Schmerz vergeht nie

„In den ersten Jahren ist es eine brennende, den Menschen zerreißende Trauer“, schildert Psychologe Georg Pieper die Folgen einer Katastrophe wie Eschede. „Das wird im Laufe der Jahrzehnte für viele ruhiger. Es bleibt aber eine immer lodernde Flamme.“ Pieper hat Opfer und Angehörige der ICE-Katastrophe betreut. Er gilt als einer der erfahrensten Trauma-Experten und ist seit 40 Jahren therapeutisch tätig, so auch nach dem Amoklauf von Erfurt 2002 und dem Grubenunglück von Borken 1988.

„Auch zwanzig Jahre danach ist das Unglück an einem solchen Gedenktag den Angehörigen präsent.“Georg Pieper, Psychologe

„Ein Jahrestag ist ein weiterer Schritt der Verarbeitung, wenn man Trauergefühle zulässt und mit anderen teilt“, sagt Pieper mit Blick auf den kommenden Sonntag. „Auch zwanzig Jahre danach ist das Unglück an einem solchen Gedenktag den Angehörigen präsent“, erklärt er. „Das kann zu Alpträumen und psychosomatischen Beschwerden führen. Auch Trauer, Wut und Zweifeln, ob man es geschafft hat, das zu bewältigen, gehören dazu.“ Man sollte sich einem solchen Tag aktiv stellen, rät der Krisenpsychologe. „Es ist empfehlenswert, sich mit anderen Betroffenen zu treffen und gemeinsam das Schwere zu tragen.“

Gemeinsam trauern am Unglücksort

„Das Gedenken ist der eine Aspekt, aber man muss aus dem Unfall lernen“, betont Löwen. „Es gibt nichts Wichtigeres als das Leben an sich und am Leben zu sein. Oberste Priorität muss immer die Sicherheit haben.“ Der technische Fortschritt und das „immer schneller-höher-weiter“ müssten Grenzen haben. „Eschede muss auf Dauer eine Mahnung sein“, fordert Löwen.

Zum 20. Jahrestag kommen Hinterbliebene, Überlebende, Helfer, Anwohner sowie Vertreter von Politik und der Deutschen Bahn an diesem Sonntag in dem Ort zunächst zum stillen Gedenken zusammen, wie Eschedes Bürgermeister Günter Berg dem epd sagte. Zu den Rednern auf einem Brückenplateau an der Gedenkstätte gehören Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), Bahnchef Richard Lutz und Heinrich Löwen, der bei dem Unglück seine Frau und seine Tochter verlor, als Sprecher der Hinterbliebenen.

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