Lonny von Schleicher verlor ihre Lieben, aber nie den Mut

Hitler ließ ihre Eltern ermorden: Die Stieftochter des letzten Reichskanzlers der Weimarer Republik zieht mit 90 Jahren eine Lebensbilanz.

06.01.2010 | Stand 16.09.2023, 21:09 Uhr
Katja Meyer-Tien

München.Wenn Lonny von Schleicher vom schlimmsten Tag ihres Lebens erzählt, dann tut sie das in immer gleichen Worten: „Der 30. Juni war ein wunderschöner Sommertag, ich freute mich darauf, mein gutes Zeugnis zu Hause zu zeigen“, erzählt sie dann. „Schon am Anfang der Griebnitzstraße sah ich, dass Polizei da stand. Ich kannte den Wachtmann, der vor unserem Haus stand und die Straße absperrte. Er war sehr verlegen. Ich ging rein, und dann sagte unsere Haushälterin: ‚Deine Mutter ist im Krankenwagen abtransportiert worden und der General liegt erschossen im Wohnzimmer.‘“ Es war der 30. Juni 1934, und aus Lonny von Schleicher, Stieftochter des letzten Reichskanzlers der Weimarer Republik, wurde die Stieftochter eines toten Hochverräters. Ihre Mutter starb wenig später im Krankenhaus.

Viele Auftritte in Dokumentationen

Lonny von Schleicher hat dies oft erzählt, ein gutes Dutzend Videokassetten von ihren Auftritten bei Dokumentationen über die Nazizeit hat sie schon. Wie es weiterging, hat sie kaum je erzählt. Wie aus dem damals 14-jährigen Mädchen die resolute, selbstbewusste Dame wurde, die vor kurzem in München ihren neunzigsten Geburtstag feierte. Es ist die Geschichte einer Frau, der Hitler alles nahm. Und die dennoch, oder gerade deswegen, ihren eigenen Weg fand.

Sie war elf, als sich ihre Eltern scheiden ließen, und in einer Zeit, in der das Wort Patchworkfamilie noch nicht erfunden war, heiratete Lonnys Mutter den Vetter von Lonnys Vater, und der wurde 1932 zum Reichskanzler. Der Mann, den Historiker manchmal als intrigant und autoritär titulieren, der sich in der Reichswehr hochgedient und der von Papen gestürzt hatte, brachte das Mädchen zum Lachen, war Vater, ohne den echten Vater ersetzen zu wollen. Nur dass er verlangte, dass sie auch am Sonntag früh aufstand, um mit der Familie gemeinsam zu frühstücken, das ging ihr auf die Nerven. Sie war 13, als er Hitler die Macht überlassen musste. Alt genug, um zu verstehen, wenn von Schleicher von seinen Plänen zum Aufbau einer Einheitsfront gegen Hitler gesprochen hatte. Zu jung, um das zu verstehen, was damals kaum einer ahnte: Dass mit dem Scheitern dieser Pläne eines der grausigsten Kapitel der deutschen Geschichte beginnen sollte. Aber es begann direkt bei ihr zu Hause.

München.Die Worte ihres toten Stiefvaters – Hitler sei ein guter Trommler, aber sonst nichts – noch im Ohr, musste die 14-Jährige plötzlich aufpassen, mit wem sie über was sprach. Sie zog mit ihrer Tante von Neubabelsberg nach Potsdam und ging auf ein Privatlyzeum. Immer wieder warteten nach dem Unterricht Polizeibeamte auf sie, nahmen sie mit auf die Wache, verhörten sie stundenlang, sagten ihr Anschlagspläne nach. Aber Lonny von Schleicher blieb nur der kleine, private Widerstand: Sie trat nie in den BDM ein, vermied es, die Hand zum Hitlergruß zu heben, und als ihre Zimmergenossin im Internat ein Hitlerbild an die Wand hängen wollte, da wurde sie böse – das Bild blieb in der Schublade. Lonny von Schleichers Augen blitzen noch heute angriffslustig, wenn sie von dieser Zeit erzählt.

Als sie kriegsdienstverpflichtet wurde, fand sie eine Stelle beim Reichsheeresarchiv in Potsdam, nebenbei besuchte sie einen Kurs für Schreibmaschine und Stenografie, den sie 1943 so gut abschloss, dass sie als Kursbeste sofort einen Marschbefehl bekam. Direkt ins Führerhauptquartier. „Sie haben wohl meinen Namen nicht gelesen!“, fuhr sie die Lehrerin an, setzte sich ans Telefon, rief Freunde an, und kurz darauf hatte sie eine Wehrmachtsstelle in Paris. Der Krieg schien weit weg, bis die Alliierten kamen. Mit dem Roten Kreuz floh sie zurück nach Berlin, dann nach Dänemark, und hier holte der Krieg sie endgültig ein: Fast stündlich landeten an der Küste die Schiffe mit Soldaten, verwundet, schwer verletzt, tot. Es fehlte an allem. Lonny von Schleicher half, wo es ging, aber das reichte nie. Hitler hatte ihr die Eltern genommen, sein Krieg brachte ihr Albträume.

Mit 27 konnte ihr Leben beginnen

Und dann war es irgendwann vorbei. Lonny von Schleicher war 27 Jahre alt und bereit, ihr Leben zu beginnen. Sie arbeitete sich hoch, von der ungelernten Krankenschwester zur Sprechstundenhilfe, wurde Sekretärin beim Ullstein-Verlag, Abteilungsleiterin in einer Werbeagentur. Zuletzt arbeitete sie beim BND in der Verwaltung. In ihrer Freizeit reiste sie um die Welt, in ihrer Wohnung reihen sich Fotoalben bis unter die Decke, Lonny von Schleicher in Japan, in Indien, Peru, Iran.

Sie lächelt, wenn sie die Alben betrachtet, es war ein gutes Leben. Das andere, das erste Leben auf den Videokassetten, das hat sie in eine Schublade gepackt. In die Schublade einer Kommode, die sie aus dem Haus ihrer Eltern gerettet hat.