Zeitgeschichte
Martin Sperr benannte die Barbarei

Der Autor der „Jagdszenen aus Niederbayern“ wird im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg in einer Ausstellung gewürdigt.

18.10.2015 | Stand 16.09.2023, 6:56 Uhr
Florian Sendtner
Christoph Nußbaumeder (links), der einen Film über Martin Sperr gedreht hat, und Christian Muggenthaler, der Macher der Ausstellung, im Hintergrund: Martin Sperr 1962, bei seinem Schauspieldebüt −Foto: Sendtner

2014 wäre er 70 geworden, aber so ein langes Leben war ihm nicht vergönnt. 2002 ist er gestorben, im Alter von 57 Jahren. Obwohl er nicht allzuviel Zeit hatte, hat er die Republik verändert, besonders seine Heimat Niederbayern, und zwar mit den Mitteln des Theaters, so wie Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder – auch wenn deren Namen bekannter sind. Eine große Ausstellung im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg macht die Bedeutung des Dramatikers für die Gegenwart deutlich.

Ein Dorf bringt einen jungen Mann zur Strecke

Nicht wenige hatten falsche Vorstellungen: „Denn wer sich hier tatsächlich Szenen aus der Jagd erwartet“, schreibt ein erboster Leserbriefschreiber, „ist enttäuscht.“ Der Mann fühlt sich persönlich angegriffen und würde „am liebsten das ganze Kino mit dieser Schweinerei in die Luft fliegen lassen“. Mit „Schweinerei“ ist keineswegs nur die nichtkriminalisierende Darstellung eines Homosexuellen gemeint, sondern viel mehr: der gnadenlose Blick auf das barbarische Dorfkollektiv, das niemandem ein freies Leben erlaubt und alles unter Kuratel stellt. Es ist letztlich immer noch die Hitlersche Volksgemeinschaft, die sich gegenseitig beobachtet, belauert, maßregelt, abstraft – und das alles in unberührter niederbayerischer Dorfidylle (gedreht wurde in Unholzing nördlich von Landshut). Es geht bei der hitzigen Auseinandersetzung um Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ darum, ob Deutschland ein Vierteljahrhundert nach der Niederschlagung der NS-Diktatur nicht endlich ein freies Land werden will.

Die eigene Heimat als Literatur-Thema

Die Rede zur Eröffnung der Ausstellung hielt der Dramatiker Christoph Nußbaumeder, der Sperr Ende der 1990er kennenlernte und einen Dokumentarfilm über ihn drehte, der auch in der Ausstellung läuft. Nußbaumeder stammt aus Niederbayern und lebt in Berlin; auf bayerischen Bühnen ist er bekannt durch sein Stück „Eisenstein“. „Ich habe von Sperr viel gelernt, ohne das Bedürfnis zu haben, ihn zu kopieren“, sagt er im Literaturarchiv.

In einem Interview erläutert Nußbaumeder, was ihm als Jugendlichem beim Lesen der „Jagdszenen“ klar wurde: „Mir war nicht bewusst, dass die eigene Provinz Gegenstand von Literatur sein kann. […] Ich dachte, alles, was in meiner Umgebung passiert, interessiert kein Schwein, weil es viel zu irrelevant ist. Heute weiß ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Man kann nur über das schreiben, was man kennt.“