Historie
Kleinkinder starben an „Froas“

Claudia Heigl referierte bei den Chamer Familienforschern über die Kindersterblichkeit in früheren Zeiten.

06.04.2022 | Stand 15.09.2023, 6:19 Uhr
Antonia Schmidbauer
Elfriede Dirschedl, AK-Vorsitzende der Chamer Familienforscher und Vorsitzende der GFO in der Oberpfalz, dankte Referentin Claudia Heigl (re.) für das Kommen und den Vortrag mit einem kleinen Präsent. −Foto: csa

Nach langer Corona-Pause konnten sich am Samstag auch wieder die Familienforscher im Landkreis Cham der Gesellschaft für Familienforschung“ in der Oberpfalz (GFO) treffen. Neben einem Vortrag bestand die Möglichkeit zur Kontaktpflege und für Forscherhilfen.

Elfriede Dirschedl, Leiterin der GFO-Familienforscher im Landkreis und Vorsitzende der GFO in der Oberpfalz, stand bei der Begrüßung in der Klostermühle Altenmarkt die Freude im Gesicht geschrieben: „Endlich können wir wieder zusammenkommen, auch wenn wir wegen der aktuell hohen Inzidenzwerte noch nicht ganz so viele sind wie sonst üblich.“ Ein Willkommen galt Claudia Heigl, Leiterin des Familienforscher-Stammtisches Straubing-Bogen, als Referentin zum Thema Kindersterblichkeit.

Heigl ging auf das Thema insbesondere an den Beispielen der Pfarreien Steinach und Münster ein. Als häufigste Sterbeursache bei Kindern finde sich in den Kinderbüchern Fraisen oder Frais/Froas bzw. Convulsion als Sammelbezeichnung für Kinderkrankheiten mit krampfartigen bzw. epileptischen Anfällen. Die Bezeichnung stehe möglicherweise im Zusammenhang mit „Fraisan – Gefahr bringen“ (Gotisch), „Fraisa – Gefahr“ (Althochdeutsch) bzw. „Vreise – Furcht, Schrecken“ (Mittelhochdeutsch).

Mit „Fraisen“ wurden laut Heigl die unterschiedlichsten Krankheiten bezeichnet. Durch die hygienischen Zustände der damaligen Zeit und die mangelhafte medizinische Versorgung gab es eine sehr hohe Sterblichkeit von Kindern bis zwei Jahren. Von den oft zwölf bis 18 Kindern, die in einer Familie geboren wurden, überlebten nicht selten nur die Hälfte oder weniger. Die Schnuller zum Beispiel waren aus einem Stück Leinenstoff gefertigt, das mit Sauerteig oder ähnlichem gefüllt war. Fiel dieses Teil zu Boden, wurde es dem Säugling sofort wieder in den Mund gesteckt. An Auskochen oder Desinfizieren dachte damals niemand.

Magen-Darm-Störungen Ursache

Wenn eine Mutter bei der Geburt starb oder zu wenig Milch hatte, gab man den Säuglingen Kuhmilch. Dies führte zu erheblichen Magen-Darm-Störungen der Säuglinge und oft auch zum Tod. Im Grunde starb fast jedes zweite Kind an Schwäche infolge von Magen-Darm-Störungen.

Weitere häufige Todesursachen von Kindern unter zwei Jahren waren periphere Irritationen wie die Überladung des Magens mit unverdaulicher Nahrung, Rachitis (verursacht durch Vitamin-D-Mangel), Fieber bei Infektionskrankheiten sowie Hirnhautentzündung. Als Hilfe gegen „Fraisen“ wurden Utensilien wie Fraisen-Mütze, Fraisen-Kreuze oder Fraisen-Ketten herangezogen, welche die Referentin anhand von Bildern beispielhaft aufzeigte. Bei einer Geburt war es früher das Wichtigste, dass Kinder getauft wurden, damit sie beim Tod in den Himmel aufgenommen wurden. Deshalb hatten Hebammen in ihrer Ausrüstung auch immer eine Taufspritze mit Weihwasser dabei. Denn wenn die Gefahr bestand, dass ein Säugling die Geburt nicht überleben könnte, wurde er bereits im Mutterleib mit der Spritze getauft. „Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen“, so Heigl.

In bestimmten Wallfahrtskirchen wurden bei einer Geburt verstorbene Kinder auch auf den Altar gelegt, um für eine minimale Zeitspanne zu „leben“, so dass sie dort getauft werden konnten. Denn ungetaufte Kinder wurden von den Priestern nicht im Friedhof beerdigt, sondern außerhalb der Friedhofsmauer begraben. Entsprechend wurde sie als „Anonyma“ oder „Anonymus“ bezeichnet. Getaufte Säuglinge, die verstarben, wurden auf dem Friedhof im gesonderten Platz „Kinderfriedhof“ bestattet – sehr selten mit einem kleinen Grabstein, sondern überwiegend mit einem kleinen Holzkreuz. War dieses verwittert, wurde auch das verstorbene Kind vergessen.

Familienforscher dokumentieren nicht nur die nackten Daten von Geburt, Hochzeit und Tod, sondern betrachten auch die Schicksale der dokumentierten Familien. Dies ist das „Fleisch auf dem Gerippe“, so die Referentin. Es gibt Aufschluss darüber, wie gut oder schlecht es der jeweiligen Familie ging. Bei armen Familien kam es häufig vor, dass zehn von zwölf Kindern starben. Darum sei es so wichtig, dass bei der Erstellung einer Ahnentafel nicht nur auf die direkte Familienlinie geachtet wird, sondern auch auf die Nebenlinien.

Entwicklung in zwei Jahrzehnten

Heigl ging auch auf Grafiken ein. So wurde z.B. aufgezeigt, wie sich die Kindersterblichkeit unter zwei Jahren im Lauf der Zeit geändert hat: 1827 bis 1830 = 49 Prozent; 1900 bis 1904 = 57 Prozent; 1935 bis 1939 = 21 Prozent; 1950 bis 1954 = sechs Prozent. Die Kindersterblichkeit unter zwei Jahren betrug um 1920 in Cham etwa 35 bis 40 Prozent, in Waldmünchen 30 bis 35 Prozent, in Viechtach 25 bis 30 Prozent, im Kreis Straubing 40 bis 45 Prozent.

Der demografische Wandel hat dazu geführt, dass in Deutschland jährlich mehr Menschen sterben als geboren werden. 2020 meldet das Statistische Bundesamt 773 144 Lebendgeborene (9,3 je 1000 Einwohner) und 985 572 Gestorbene (11,8 je 1000 Einwohner). (csa)