Copperfields Corner
Musiker und das Hochstapler-Syndrom

Selbstzweifel können für Künstler zur gefährlichen Gedankenschleife werden. Unser Kolumnist erklärt, was dagegen hilft.

04.06.2021 | Stand 14.09.2023, 23:46 Uhr
Tilo George Copperfield
Hinter dem Vorhang ein letzter Moment des Zweifelns, dann geht es vor die Zuschauer. −Foto: Matthias Rietschel/picture alliance / Matthias Rietschel/dpa-Zentralbild/dpa

„Fake it till you make it“: Die Musiker unter uns kennen dieses Gefühl. Man spielt gerade mit seiner Band, das Publikum ist wie gebannt und es läuft richtig gut. Dann der kleine Fehler, eine Unsauberkeit auf dem Instrument, ein falscher oder schiefer Ton, und plötzlich hat man das Gefühl, die ganze Welt schaut gerade auf einen und alle brechen gleich in lautes Gelächter aus. Und wenn sie heimgehen, erzählen sie es ihren Freundinnen und Freunden, der ganzen Familie und dem Hund. Versagen auf ganzer Strecke, und die Karriere ist ruiniert. Man ist aufgeflogen, denn eigentlich gehört man gar nicht auf die Bühne und hat sich nur irgendwie in das Rampenlicht gemogelt. Der Rest des Gigs ist dadurch vermiest, weil man immer an diese kleine Verfehlung denken muss.

Willkommen im Reich des Selbstzweifels! In Wirklichkeit haben diesen Fehler im Publikum vielleicht nur zwei Personen mitbekommen oder verstanden und denen ist es vollkommen egal, weil sie gerade gar nicht aufgepasst haben und es sie gar nicht interessiert. Aber warum ist das so? Warum überbewerten wir diesen einen Schnitzer, falschen Einsatz im Gegensatz zu 99 Prozent des Auftritts, die vielleicht großartig waren?

Das Hochstapler-Syndrom

Schon mal vom sogenannten „Hochstapler-Syndrom“ gehört? Laut Wikipedia: „Trotz offensichtlicher Beweise für ihre Fähigkeiten sind Betroffene davon überzeugt, dass sie sich ihren Erfolg erschlichen und diesen nicht verdient haben. Von Mitmenschen als Erfolge angesehene Leistungen werden von Betroffenen dieses Symptoms mit Glück, Zufall oder mit der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten durch andere erklärt.

Bei manchen dieser Menschen sind diese Selbstzweifel derart ausgeprägt, dass sie sich selbst für Hochstapler halten und in der ständigen Angst leben, andere könnten ihren vermeintlichen Mangel an Befähigung bemerken und sie als Betrüger entlarven.“ Menschen, die also unter diesem Symptom leiden, legen damit Fehler oder Verfehlungen auf die Goldwaage und fühlen sich gerade dann bestätigt, wenn Kritik auf sie herunterhagelt.

Wenn man jetzt meint, das hört sich vollkommen exotisch an, dem sei (laut Wikipedia) gesagt, dass psychologische Studien aus den 1980er Jahren schätzen, dass zwei von fünf erfolgreichen Menschen sich selbst als Hochstapler einstufen. Nach anderen Studien fühlen sich 70 Prozent aller Menschen unter bestimmten Umständen oder Zeiten als Hochstapler. Es passiert also nicht nur dem Musiker auf der Bühne, sondern fast jedem von uns von Zeit zu Zeit. Gute Nachrichten also: man ist nicht allein mit dieser mal mehr oder weniger ausgeprägten psychischen Störung.

Der Firmenchef, der eine Rede hält und sich gerade fragt: „Was mache ich hier? Ich habe doch gar nicht verdient, hier oben zu stehen.“ Während 300 Augenpaare der Belegschaft gerade auf ihn gerichtet sind. „Fake it till you make it“ ist ein berühmter Spruch, den man in dem Zusammenhang oft hört. Jeder muss einsehen, dass es immer Sachen gibt, die man das erste Mal macht. Ein Chirurg weiß nicht hundertprozentig genau, was passiert, wenn er seine allererste Herzoperation durchführt. Eine Flugzeugkapitänin vor ihrem ersten Flug? Eine frischgebackene Führungskraft? Auch diese Leute werden sich vielleicht mal denken: „Kann ich das? Oder habe ich mich hier nur unbemerkt reingeschmuggelt, weil ich in Wirklichkeit diese Fähigkeiten nur vorgetäuscht habe?! Aber jetzt hilft es nichts, ich muss es zu Ende bringen.“

Was könnte helfen? Wie kommt man heraus aus dieser Gedankenschleife? Vielleicht hilft das: Wenn wir uns ständig darüber Gedanken machen, was andere von uns denken, jeden unserer Schritte beobachten und darauf warten, bis wir mal in ihren Augen irgendwas Peinliches machen oder versagen, dann könnte uns das vor lauter Angst ganz schön blockieren. Vielleicht sollte man sich einfach mal klar machen, dass man sich oft für ein bisschen zu wichtig hält. Die Wahrheit ist nämlich, dass es 90 Prozent der Menschen, die einem tagtäglich begegnen, komplett egal ist. Warum? Vielleicht, weil sie mit sich selbst genügend beschäftigt sind oder weil sie gerade andere Sorgen haben, als ständig auf uns zu schauen und zu warten, bis wir irgendwas versemmeln.

Hart an den Fähigkeiten arbeiten

Also ist das, was zunächst wie ein Mangel an Selbstvertrauen aussieht vielleicht gar nicht das Problem, sondern, dass man sich selbst zu stark im Vordergrund sieht? Vielleicht ein bisschen von beidem. Zumindest kann eine solche Überzeugung dabei helfen, besser zu werden. Wenn man nämlich ständig meint, man wird in seiner Performance gemessen und alle Augenpaare sind auf einen gerichtet, dann kann das im positiven Fall dazu führen, dass man mehr übt, sich seine Texte besser einprägt und sich auf die Bühne oder andere Situationen besser vorbereitet. Man will ja nicht, dass der „Hochstapler“ demaskiert wird. Also arbeitet man härter an sich und seinen Fähigkeiten.

Tilo George Copperfield:
Der Autor ist leidenschaftlicher Musikfan, Komponist, Gitarrist und Sänger und hat mit seinen Bands 3 Dayz Whizkey, T.G. Copperfield und HoAß bereits über ein Dutzend eigene Alben produziert. Seine Songs laufen im In- und Ausland im Radio. Für das Bayerwald-Echo schreibt der aus Treffelstein stammende Musiker eine exklusive Kolumne.

Meine eigene Erfahrung ist es, dass der Großteil eines gelungenen oder missratenen Abends auf der Bühne von der mentalen Einstellung abhängt und oft nicht von der tatsächlichen individuellen Leistung. Viele Musiker oder Künstler brauchen vielleicht auch mal einen oder zwei Drinks, um dieses Gefühl zu verdrängen. Das wirkt sich aber dann leider oftmals dann tatsächlich auf die Performance aus und man merkt es nur selber nicht, weil einem dann ein paar Sachen einfach total egal sind. Also an alle Hochstapler da draußen in allen Lebenslagen, Berufen oder Kunstformen: Take it easy! Ihr seid nicht allein und wenn man sich nicht ständig für den Mittelpunkt der Welt hält, dann ist das oft ein erster Schritt zur Bewältigung dieser weit verbreiteten mentalen Barriere.