Regensburg
Künstler schafft Piktogramme für die Seele

40 Stunden stehen für 40 Tage.

12.03.2021 | Stand 16.09.2023, 4:00 Uhr
Claudia Böckel
Tom Kristen setzt Ideen in Zeichnungen um. −Foto: Tom Kristen/Tom Kristen

Die ganze Woche noch wird der Künstler Tom Kristen in der Kirche St. Wolfgang sitzen, an einem Tisch, ausgestattet mit zwei verschiedenen, selbst hergestellten Tinten und einem Stapel handgeschöpften Papiers in DIN A4-Format. Er wird zeichnen.

Ganz konzentriert lässt er Kirchenraum und Besucher auf sich wirken. Ein Blatt mit dem großen Kruzifix, das in seiner Blickachse hängt, ist schon entstanden. Auch Akustisches wird verarbeitet: Die Kirchenbesucherin, die mit ihrem Stock klappernd hereinkommt, dann den Stock unter den Arm klemmt, um weniger Geräusch zu machen – oder auch, weil sie sich in der Kirche sicherer fühlt als draußen. Kristen ist ein feiner Beobachter. Er habe nie vorher Ideen zu seinen Zeichnungen, er lässt sie entstehen.

Ohne zwei Kunstaktionen des letzten Jahres sei diese Aktion in St. Wolfgang nicht möglich gewesen, erzählt er. Die Ausstellung Do the Do im Neuen Kunstverein Regensburg hat er in Zusammenarbeit mit zwei anderen Künstlerinnen konzipiert. Man traf sich, kam ins Gespräch, nahm Impulse und auch Schnipsel aus dem Papierkorb der Kollegen auf. Da habe man ein Inspirationsfass angestochen, sagt er. Und: Es ist schade, dass Künstler nicht mehr miteinander reden. Im Corona-Jahr hat sich eine Aktion quasi von selbst entwickelt. Kristen radelte jeden Morgen um das Dorf herum und fotografierte „nette Dinge“, die er als Morgengruß an Freunde verschickte. Und immer mehr Freunde wollten auch gegrüßt sein.

Gerade zum Corona-Jahrestag beendete er das Projekt. Diese beiden Projekte und die Bitte von Dr. Hermann Reidel, ehemaliger Bischöflicher Konservator für die Kunstsammlungen im Bistum Regensburg, hätten zur Fastenaktion geführt. Er habe sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er dem riesigen Kirchenraum mit seinen kleinen Formaten etwas entgegensetzen könne. Nun hat er seine Klause installiert, den Arbeitstisch selbst mitgebracht, der seine eigene Geschichte hat, seine Tinten selbst gefertigt, sattbraune Walnuss-Tinte und samtschwarze Eisengallustinte. Pigmentfarbe bleibe an der Oberfläche des Papiers hängen, aber Tinte dringe tief in das Papier ein, eine Verquickung von Malmittel und Malgrund. Kristen will diese Woche 70 bis 100 Arbeiten fertigstellen und nebenbei Tagebuch führen, um seine Eindrücke zu sammeln. Gedankennotationen seien seine Blätter, Seelenpiktogramme vielleicht, nach innen gerichtet, mit kontemplativem Charakter.

Seit 2005 sind während der Fastenzeit regelmäßig Kunstwerke in St. Wolfgang zu sehen und zu erleben, mal sind es ganze Kreuzwege, mal riesige Kugeln aus filigranem Metall. Diesmal wird man den Künstler besuchen, bei der Arbeit beobachten, mit ihm ins Gespräch kommen können.

Als Ausgangspunkt für seine Werkreihe hat Kristen ein Zitat von Robert Browning gewählt, das ihn zu seinem „Ikarus“ inspirierte: „Unsere Sehnsüchte sind unsere Möglichkeiten.“ Da sitzt Ikarus hoch auf einem Berg auf einer Leiter, die Flügel ausgebreitet, die Wolken schon unter sich, den Kopf hochgereckt, voller Ideen. (moe)