Musik
Mehr als nur ein Chorleiter

Matthias Schlier leitet seit 25 Jahren den Regensburger Laienchor „Cantemus“. Aus einer Idee machte er ein Lebenswerk.

18.06.2019 | Stand 16.09.2023, 5:32 Uhr
Anna Jopp
Matthias Schlier, Leiter des Cantemus-Chors, sitzt bei der Arbeit meistens am Klavier oder Flügel. Foto: Adler −Foto: Sandra Adler

Wenn Matthias Schlier zwischendurch eine halbe Stunde Zeit findet, setzt er sich auf sein Fahrrad und fährt zu seinen Bienen. Auf dem Sattel und im Schlossgarten von Sankt Emmeram kann der Chorleiter ein paar Minuten entspannen. Hier vergisst Matthias Schlier für einen Moment all das, was ihn sonst umtreibt: die Emails und Telefonate, die er schon in aller Früh beantwortet und geführt hat. Die Bürobesprechungen und Proben im Haus der Musik am Bismarckplatz. Die Sorgen um den Plakatdruck, das tiefe „Es“ des Solisten, um Tickets und Kostümzettel. Denn so wie jetzt die Insekten, umschwirren den Vater des Cantemus-Chors seit über 25 Jahren die jungen Menschen.

Kaum hat Matthias Schlier an diesem Montagvormittag das Klassenzimmer der Grundschule Königswiesen betreten, ist er umringt von Kindern. „Herr Schlier, schau mal!“, rufen sie und buhlen um die Aufmerksamkeit des Musiklehrers. Ein Mädchen klettert auf Schliers Schoß, ein Junge möchte erzählen, wie sein Wochenende war.

Schlier lässt sie eine Weile gewähren. Dann stimmt er das erste Lied an: Die Erst- und Zweitklässler nehmen auf ihren Plätzen im Stuhlkreis Platz. An einem Ende sitzt Matthias Schlier am Klavier und ruft sie zur Ruhe. Eben noch wild und aufgekratzt, sind die Kinder nach ein paar Tönen konzentriert bei der Sache und stimmen aus voller Kehle mit ein: „Jeder ist heut‘ gut gelaunt / und alle singen mit /...“.

Kirchenmusik alleine reicht nicht

Mit den Singklassen an den Regensburger Grundschulen hat für Schlier damals alles angefangen. Der heute 55-Jährige stand als Kirchenmusiker an der Basilika St. Emmeram vor einem Problem: Dem Chor der ehrwürdigen Basilika fehlte der Nachwuchs. Ursprünglich habe er sich nicht vorstellen können, mit jungen Sängern zu arbeiten, sagt Schlier heute: „Als ich studiert habe, habe ich immer gedacht: Mit Kindern, das ist nichts für mich. Ich war wirklich überrascht zu merken: Hey, die Kinder mögen mich!“

Allein mit Kirchenmusik, das stellte er schnell fest, war die junge Generation jedoch nicht zu begeistern. Über erste Versuche mit Krippenspielen in St. Emmeram und kleinen Theaterstücken reifte daher zunehmend eine Idee in dem gebürtigen Würzburger heran. Als er dann eine Stellenausschreibung sah --- „Die Singschule an den Regensburger Grundschulen sucht...“ --- war es um ihn geschehen.

Ein Porträt des Chorleiters in bewegten Bildern sehen sie unter folgendem Link:

Neben den Sing-AGs, in denen die Schüler freiwillig und ohne Druck nach der Schule ein oder zwei Stunden singen können, sind die insgesamt vier Cantemus-Chöre in verschiedenen Altersgruppen Schliers eigentliches Projekt. „Die Singklassen singen nur für sich und weil sie Spaß daran haben“, sagt Schlier. „Nach der vierten Klasse zerstreut sich das meist.“ Im eigentlichen Cantemus-Chor gehe es hingegen immer auch darum, irgendwann für andere zu singen. Idealerweise kann er die Kinder in den Singklassen dafür begeistern, später auch zu den „richtigen“ Chorproben zu kommen.

In Schliers eigenem Stundenplan verläuft dieser Übergang fließend: Von einer Chorprobe geht es direkt zur nächsten. Zeit für die Bienen oder eine andere Pause bleibt dem Hobbyimker nur selten. Gerade montags gehen die Proben bis 21 Uhr. Danach muss Schlier, der bewusst auf ein Smartphone verzichtet, noch Emails beantworten.

Neben all seinen organisatorischen Aufgaben als Chorleiter verbringt Matthias Schlier bis heute einen Großteil des Tages „mitten drin“, mit „seinen“ Chorgruppen im Haus der Musik. Mal alleine vor- und mitsingend am Klavier, mal als Korrepetitor, der die Regisseure und Choreographen in den Musical-Aufführungen unterstützt.

Scheinbar mühelos erinnert sich Matthias Schlier an die Texte und Melodien sämtlicher Lieder, die in den unterschiedlichen Jahrgangsstufen gerade geprobt werden und kennt den Namen jedes einzelnen Schülers. „Eine gute Gedächtnisübung“, nennt er das selbst. In vielen Jahren habe er sich antrainiert, jede einzelne Station seines Tagesablaufs als separaten mentalen „Raum“ zu sehen: „Wenn ich in einem dieser Räume bin, sind alle Details zu diesem Thema da. Wenn ich den Raum verlasse und in den nächsten gehe, mache ich die Tür gedanklich komplett hinter mir zu: Wenn ich mit den Kindern arbeite, darf mir beispielsweise nicht durch den Kopf gehen, wie viele Mikrofon-Anschlüsse wir im Velodrom brauchen.“

Für diese Fähigkeit, Aufgaben zwar zu delegieren, letztendlich aber doch stets den Überblick über jedes Detail des Cantemus-Chors zu behalten, schlägt Matthias Schlier viel Anerkennung von denen entgegen, die mit ihm arbeiten: „Jedes Kind und jeder Jugendliche wird gesehen. Er weiß immer, wer gerade wo steht, wer demnächst mal an der Reihe ist und eine Hauptrolle bekommen sollte“, sagt etwa die Stimmbildnerin Annika Fischer, die die Chöre seit acht Jahren unterstützt.

Einer, der alles zusammenhält

„Herr Schlier ist der, der alle zusammenscheißt, wenn sie mal wieder Blödsinn machen“, sagt hingegen August Grundig und grinst. Der 14-Jährige ist seit 2014 bei Cantemus. In diesem Jahr wirkte eram Musical „The Addams Family“ von Chor Cmit. „Aber er ist eben auch eine Bezugsperson: derjenige, der alles zusammenhält und rund um die Uhr irgendetwas für den Chor macht.“

Er selbst empfinde die Chorproben als geradezu entspannend, sagt Schlier, wenn man ihn auf seinen prallgefüllten Tagesplan anspricht. „Ich spiele in den Proben keine Rolle, die Kinder und Jugendlichen erleben mich genau so, wie ich bin. Für mich macht es also gar keinen großen Unterschied, ob ich in der Musikschule bin oder zu Hause auf dem Sofa.“ Jede Chorstunde sei unterschiedlich und es werde nie langweilig. Dennoch: „Viel mehr geht nicht, meine Woche ist voll“, gibt er zu. Seine Energie würde ansonsten wohl tatsächlich noch für ein paar weitere Chöre und Nebenprojekte ausreichen.

Für mich macht es keinen großen Unterschied, ob ich in der Musikschule bin oder zuhause auf dem Sofa.Matthias Schlier

Die Idee, für die Matthias Schlier anfangs belächelt wurde, ist in einem Vierteljahrhundert zu einer festen Größe mit über 700 Mitgliedern herangewachsen. Heute blickt Schlier voller Stolz auf das Erreichte zurück: „Im Prinzip ist der Chor genau so, wie ich ihn mir 1994 vorgestellt hatte.“ Auch die Struktur aus Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchören, die einander unterstützen, habe ihm von Anfang an so vorgeschwebt. Trotzdem habe er im Lauf der Jahre immer wieder Selbstzweifel verspürt und viele Fehler gemacht. „Nach jedem Fehler muss man in sich gehen und die Schuld bei sich suchen. Das tut richtig weh, aber nur so lernt man daraus.“

Das mit den Bienen, sagt Schlier, sei dem Cantemus-Chor gar nicht so unähnlich. Spätestens mit 67 will er aufhören. Ob es ein Cantemus ohne Schlier überhaupt geben könne? „Aber unbedingt!“, sagt Matthias Schlier. „Eine Bienenkönigin lebt für das Volk. Aber die Königin ist nicht das Volk. Wenn sie zu alt wird, dann holt das Volk sich eben eine Neue.“