Literatur
Brillant und paranoid: Uwe Johnson

Er war der exemplarische Autor seiner Epoche – und wurde zum Opfer der privaten und politischen Verhältnisse. Vor 30 Jahren starb der Schriftsteller.

20.02.2014 | Stand 12.10.2023, 10:21 Uhr
Helmut Hein

Uwe Johnson (1934-1984) gilt bis heute als Autor der deutschen Teilung. Foto: epd

Es war eine fremde, seltsame Welt. In diesen späten Post-68er-Tagen füllte sich der größte Hörsaal der Universität bis auf den letzten Platz. Fluchtwege gab es keine: Selbst auf den Treppenstufen und vor den Türen lagerten die Studenten. Uwe Johnson in Regensburg, das war in diesen Tagen ein Ereignis.

Enttäuschte er die Erwartungen? Ja und nein. Johnson war zu dieser Zeit ein Ex-Autor. Ein „writer’s block“ verhinderte seit Jahren die Fertigstellung seines Hauptwerks „Jahrestage“. Er wurde, wie er damals selbst bitter bemerkte, „von Unseld durchgefüttert“. Der Suhrkamp-Verleger hielt an ihm fest. Aber er wurde zunehmend ungeduldig.

Von tiefer Skepsis durchdrungen

Dieser hochgewachsene schwere Mann mit dem haarlosen Schädel und dem hochroten Gesicht sprach nur noch Meta-Text. Im akademischen Ambiente fiel das nicht weiter auf. Später zog er, der versierte Trinker, mit seinen kundigsten Lesern bereitwillig durch die Kneipen. Aber er blieb verschlossen, abweisend. Wenn man ihm Fragen stellte, die er als zu privat empfand, und er empfand fast alles, hellsthörig, als Attacke auf seine Intimsphäre, konnte man sehen, wie der Zorn in ihm hochstieg.

Spätestens seit den frühen 70ern war Johnson ein Versehrter, ein zutiefst Verletzter. Seine Identität, nicht nur die des Schriftstellers, drohte sich aufzulösen. Johnson war immer schon misstrauisch gewesen. Jetzt verwandelte sich seine tiefe Welt- und Menschen-Skepsis in offene Paranoia.

Den Todfeind im Bett

Der Kern seines Verfolgungswahns lässt sich so zusammenfassen: Ich hatte jahrelang meinen Todfeind im Haus, ja im Bett. 1962 hatte er Elisabeth Schmidt, die wie er aus der DDR geflohen war, geheiratet. Später steigerte sich seine maßlose Eifersucht auf den Prager Mozart-Forscher Tomislav Volek, ihren Liebhaber, angestachelt durch Brieffunde, zum universellen, alles auslöschenden Verdacht. Er sah, sexuell zutiefst gekränkt, im Rivalen einen höheren Offizier eines östlichen Geheimdiensts, der es geschafft hatte, sich im Zentrum seiner Existenz, in Hirn, Herz und Geschlecht einzunisten.

Noch Jahre lebte er, nach der Scheidung 1978, in engster Nähe mit seiner Ex-Frau in Sheerness on Sea auf der kleinen Themse-Insel Sheppey – und erlegte sich und ihr einen strengen Stundenplan auf, der verhindern sollte, dass sie sich zufällig begegneten. Im Februar 1984 fand man ihn, von Einsamkeit, Trauer und Alkohol zerfressen, tot in seinem Zimmer. Er musste da schon tagelang gelegen haben.

Wissen ist nur Vermutung

Etwa seit dem Jahr 1960 galt Johnson, eng mit Grass und Frisch, später dann auch mit Hannah Arendt befreundet, als der avancierteste, experimentierfreudigste, intellektuell „wachste“ unter den deutschen Nachkriegsschriftstellern. Seine Prosa war nie naiv, vielmehr reflexiv, „gebrochen“, multiperspektivisch. Die Wirklichkeit wird kenntlich bestenfalls in der Montage, dem Arrangement vieler Stimmen.

Sein erster Roman hieß „Mutmaßungen über Jakob“. Das war programmatisch gemeint. Was wir zu wissen meinen, ist in Wahrheit nur Vermutung. Eine unter vielen anderen, die nicht weniger plausibel sind. Man hat ihn den „Dichter der beiden Deutschland“ genannt. Aber sein Grenzgängertum führte weit über den Konflikt der Systeme hinaus. Die Moderne bringt es mit sich, dass der Riss mitten durch die Menschen geht.

Eine Lebensbeschreibung scheint unter diesen Bedingungen kaum mehr möglich. Der Titel seines zweiten Romans, „Das dritte Buch über Achim“, deutet das schon an. Es gibt schon zwei Bücher über diesen Sportstar, die aber jetzt, nach seinem Wechsel in die Politik, nicht mehr hinreichen. Noch der authentischste Ausdruck verdankt sich einer Funktion.

2000 Seiten, 1 Roman

Von 1966 bis 1968 lebte Johnson in New York an der Upper Westside in Manhattan. Seine Wohnung in diesen Jahren kennt jeder Leser: Es ist die seiner Heldin aus den „Jahrestagen“, die, zufällig, wie Johnson beteuert, die Zeit vom 20. August 67 bis zum 20. August 68, dem Tag des Einmarschs der Warschauer Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei, beschreiben. Dieser Zweitausend-Seiten-Roman „in vier Lieferungen“ (die letzte erschien erst kurz vor seinem Tod, nach zehnjähriger Pause) ist ein beeindruckendes Monstrum. Der Versuch, nach dem „Tod“ des auktorialen Erzählers, die Totalität einer Epoche noch einmal zu fassen. Wie bei Johnson üblich: durch die Aneinanderreihung einer Fülle von Fragmenten.

Gesine Cresspahl, die Geliebte des Helden aus den „Mutmaßungen“, lebt mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie mittlerweile als Bankangestellte in New York. Der Leser erfährt dreierlei: den Alltag der beiden und die Vorgeschichte, die Familiengeschichte seit der Nazizeit; die neugierige Tochter ist dabei die „Hebamme“, die durch ihre Fragen den Erzählfluss auslöst und steuert. Und außerdem, weil niemand mehr alles selbst erfahren kann, werden wir Zeuge der Zeitungslektüre der Gesine. Die „New York Times“ ist das Welt-Gedächtnis, bei dem sich Johnson, wie seine Heldin, ausgiebig bedient. Das Fernsehen hat diesen Roman, aufwendig, als Mehrteiler verfilmt. Aber die „Jahrestage“ entziehen sich weitgehend einer solchen Form der Darstellung. Man muss schon selber lesen.