Porträt
Der Philosoph, der sich selbst hasste

Vor 125 Jahren wurde Ludwig Wittgenstein geboren. Er war Erbe einer großen Industriellendynastie und ein äußerst begabter Ingenieur und Philosoph.

24.04.2014 | Stand 12.10.2023, 10:21 Uhr
Helmut Hein

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, fotografiert unter Wittgensteins Anleitung vom Freund Ben Richards im September 1947 im britischen Swansea, Südwales. Foto: Ben Richards/Wittgenstein Archive Cambridge/dpa

Er war der schwerreiche Erbe einer der größten Industriellendynastien des Habsburger Reichs und ein äußerst begabter Ingenieur und Philosoph. Trotzdem war Ludwig Wittgenstein ein unglücklicher, suizidärer Mann. Warum? Weil er Jude und weil er schwul war. Genauer: weil er den denunzierenden Blick der damaligen Gesellschaft auf Juden und Schwule nicht nur akzeptierte, sondern sogar radikalisierte. Vor 125 Jahren, am 26. April 1889, wurde er geboren.

Er beschimpfte sich als „verworfen“

Die fürchterlichsten Antisemiten der Jahre vor 1914 waren Juden, von Otto Weininger bis eben Ludwig Wittgenstein. Die Nazis waren auch in dieser Hinsicht nicht originell. Sie plapperten nur nach, was der jüdische Selbsthass dieser Jahre vorformuliert hatte. Weininger („Geschlecht und Charakter“), einer der einflussreichsten Intellektuellen der Jahrhundertwende, brachte sich in jungen Jahren um, weil er es nicht ertrug, Jude und schwul zu sein. Wittgenstein scheute vor dieser letzten Konsequenz zurück, aber seine selbstzerfleischenden Äußerungen waren an Heftigkeit kaum zu überbieten. Selbst da, wo sie maskiert daherkamen; etwa in seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Musik Mendelssohns, die er liebte und doch als „jüdisch“, als händlerisch und parasitär verhöhnte. Wenn Wittgenstein über Mendelssohn sprach, dann meinte er sich selbst. Dabei war er der vielleicht revolutionärste Philosoph des vergangenen Jahrhunderts, so wie Mendelssohn die Musik und mehr noch die Musik-Rezeption revolutionierte.

Der jüdische Selbsthass Wittgensteins wurde höchstens noch durch seinen schwulen Selbsthass übertroffen. Wittgenstein war ein Homosexueller, der sich für sein Begehren schämte, es nicht akzeptieren und integrieren konnte. Wenn er von seinen Streifzügen zu den subproletarischen Strichern in den Donauauen in die „gute“ Gesellschaft zurückkehrte, sprach er so, dass ihn keiner verstehen konnte. Ausgerechnet Wittgenstein, dessen moralische Rigidität und Reinheit selbst die Kants in den Schatten stellte, beschimpfte sich dann als den verworfensten aller Menschen. Erst die Philosophie des späten Wittgenstein erlaubt es, eine solche Rede zu entziffern.

Der frühe Wittgenstein aber hatte, als Philosoph, noch andere Probleme. Er suchte nach einer idealen Sprache, die jeden Irrtum und damit die herkömmliche große Philosophie, die Metaphysik, unmöglich machen sollte. Denn deren Fragestellungen und „Lösungen“ beruhten nach Wittgensteins Ansicht nur auf einem Missverständnis der Grammatik. Wer deren Regeln nicht kennt, ist dazu verurteilt, zu grübeln und auf Abwege zu geraten. Für den frühen Wittgenstein gab es nur eine Sorte sinnvoller Sätze: die der (Natur-)Wissenschaft nämlich. Damit wurde er zur Gründerfigur des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus, der viele Jahrzehnte lang die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, aber auch das Verständnis der Ethik vor allem in den angelsächsischen Ländern entscheidend bestimmte. Was freilich Wittgenstein von seinen Schülern unterschied, war die Bescheidenheit des Mystikers. Wittgenstein wusste und sagte es auch, dass, wenn alles, was man sinnvollerweise sagen kann, gesagt ist, das Entscheidende noch nicht einmal berührt ist. Jenseits der positiven Welt der Wissenschaft und ihrer Methoden und Techniken gibt es eine Welt, der man sich nur schweigend nähern kann, die aber die eigentliche Welt ist.

Einfluss auf Bachmann und Handke

Nachdem Wittgenstein in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs seinen Tractatus beendet hatte, war er der Ansicht, dass er alle philosophischen Probleme, die sich überhaupt lösen lassen, gelöst habe. Folgerichtig hörte er für ein Jahrzehnt auf zu philosophieren, verschenkte sein Erbe und ging als Volksschullehrer in die Bergdörfer südlich von Wien, was für ihn und seine Schüler (und deren Eltern) rasch zur Qual wurde. Zurück in Wien baute er für eine Schwester eine Villa im Bauhausstil, die heute zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehört.

Die lange denkerische Abstinenz führte zu einer zunehmenden Skepsis gegenüber dem Tractatus. Ende der 20er Jahre ging er zurück nach England, wo er schon vor dem Ersten Weltkrieg im Umkreis von Bertrand Russell gearbeitet hatte, und entwickelte in kleinen aphoristischen Schritten seine Spätphilosophie, die in fast allem das genaue Gegenteil seiner ursprünglichen Überzeugungen darstellt. Es ging ihm jetzt nicht mehr um eine ideale Philosophie- und Wissenschaftssprache, sondern um die „normale“, die Alltagssprache, deren Regeln er analysierte. Und er sah rasch, dass diese normale Sprache nicht nur einen Typ von Sätzen kennt (die „Behauptungssätze“, die wahr oder falsch sind), sondern eine Vielzahl von „Sprachspielen“, wie er das jetzt nannte, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Wenn jemand betet oder schimpft, einen Witz erzählt oder eine ironische Bemerkung macht, dann ist es sinnlos, nach dem „Wahrheitswert“ einer solchen Äußerung zu fragen. Um ein solches Sprachspiel zu verstehen, muss man nicht nur die Syntax und Semantik einer Sprache kennen, sondern auch die Lebensform, zu der sie gehört.

Wittgenstein sagt dazu, selbst wenn ein Löwe deutsch könnte, könnten wir ihn nicht verstehen, weil seine Lebensform von der unseren vollkommen verschieden ist. Der junge Wittgenstein war ein solcher „Löwe“. Um zu begreifen, warum er sich den verworfensten aller Menschen nannte, musste man wissen, dass er ein Schwuler war, der mit seinem homosexuellen Begehren nicht zurechtkam. Ansonsten machte die Bemerkung keinen Sinn.

Wittgenstein hatte nicht nur, zuerst mit dem „Tractatus“, dann mit den „Philosophischen Untersuchungen“, zwei der wichtigsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts begründet, er hatte auch viele Intellektuelle und Schriftsteller beeindruckt und beeinflusst, von Ingeborg Bachmann über den sprachkritischen jungen Handke bis zu Thomas Bernhard, der das Buch „Wittgensteins Neffe“ geschrieben hat.