Menschen
Für Asiatin bleiben im Film zwei Rollen

Für ihren Auftritt in „Downsizing“ bekam Hong Chau eine Golden-Globe-Nominierung. In Los Angeles sprach sie über ihren Weg.

03.02.2018 | Stand 16.09.2023, 6:10 Uhr
Marco Schmidt

Hong Chau spielt Ngoc Lan Tran and Matt Damon ist Paul Safranek in dem Streifen „Downsizing“. Foto: Paramount Pictures

In der Science-Fiction-Satire „Downsizing“, die derzeit in den Kinos läuft, spielt Hong Chau locker Matt Damon und Christoph Waltz an die Wand. In Los Angeles, wo sie seit neun Jahren wohnt, treffe ich sie zu einem Gespräch unter vier Augen. Wer sie in „Downsizing“ erlebt hat, als ruppige, hitzköpfige, missmutige, humpelnde Rebellin mit heftigem vietnamesischem Akzent, der ist bei der Begegnung mit ihr einigermaßen verblüfft: Sie entpuppt sich als ausgesprochen höfliche Dame, die ruhig und wohlüberlegt antwortet, gern lacht, kein bisschen hinkt und völlig akzentfrei Englisch spricht.

Im Internet heißt es, Sie seien 1979 als Tochter eines vietnamesischen Ehepaares in einem thailändischen Flüchtlingslager zur Welt gekommen. Waren Ihre Eltern auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime?

Genau. Meine Mutter war im sechsten Monat schwanger mit mir, als sie mit meinem Vater und meinem fünfjährigen Bruder in Vietnam ein klappriges Flüchtlingsboot bestieg. Mein Vater wurde sogar von Regierungstruppen angeschossen und wäre auf der dreitägigen Odyssee übers Meer fast verblutet. Kurz vor der thailändischen Küste wurde das Boot von Piraten überfallen, die meinen Vater allerdings nicht ausraubten, weil er völlig blutüberströmt war. Nur deshalb hatten meine Eltern bei der Ankunft in Thailand noch ein bisschen Geld, mit dem sie nach meiner Geburt Babynahrung kaufen konnten.

Meine Güte! Und wie kamen Sie dann in die USA?

Dank großherziger Gastgeber in New Orleans – Leute, die selbst vor Jahren nach Amerika eingewandert waren und sich bereiterklärten, uns bei sich aufzunehmen. Ja, so etwas gab es damals noch! Meine Eltern kannten dort niemanden und sprachen kein Wort Englisch. Bis heute rede ich nur Vietnamesisch mit ihnen; Englisch habe ich erst in der Schule gelernt. Und meine Eltern haben sich viele Jahre lang in üblen Hilfsarbeiterjobs abgerackert, haben Teller abgewaschen und Klos geputzt, damit ihre Kinder zur Schule gehen und studieren konnten.

Wann wurde Ihr Berufswunsch geweckt?

Sehr spät. Als Jugendliche interessierte ich mich eher für Naturwissenschaften – so etwas wie Schauspielerei lag mir völlig fern. Ich war extrem schüchtern und traute mich nicht einmal, andere Leute anzusprechen, geschweige denn, ihnen in die Augen zu sehen. Doch ich begann, mich fürs Schreiben zu begeistern: Ich wollte Geschichten wie die meiner Familie erzählen. Also studierte ich Filmwissenschaft in Boston, weil ich glaubte, dort das nötige Handwerk lernen zu können, und absolvierte diverse Praktika bei Dokumentarfilmern und TV-Sendern. Bis heute höre ich gern anderen Leuten zu, beobachte lieber, stehe nicht gern im Mittelpunkt.

Wie sind Sie dann bei der Schauspielerei gelandet?

Um meine Scheu zu überwinden, besuchte ich während meines Studiums Abendkurse zu den Themen „Sprechen in der Öffentlichkeit“ oder „Improvisation“ und spielte aus Gefälligkeit in vielen Kurzfilmen meiner Studienkollegen mit. Ein Professor meinte eines Tages zu mir: „Du hast Talent. Mach was draus!“ Daraufhin ließ ich mich überreden, zu Castings zu gehen. Es war eher eine Mutprobe, weil ich furchtbar Schiss davor hatte, aber offenbar hat mir diese Angst eine Art perversen Nervenkitzel bereitet: Ich absolvierte ein Vorsprechen nach dem anderen, nahm schließlich Schauspielunterricht in New York, agierte dort wiederum in Studentenfilmen und miesen Off-Broadway-Produktionen und zog 2008 auf Anraten eines Regisseurs nach Los Angeles.

Hat Hollywood Sie mit offenen Armen empfangen?

O nein. Als Newcomerin wird man bei Castings meist schon nach wenigen Sätzen wieder heimgeschickt. Und als Asiatin darf man in der Regel vor der Kamera höchstens mal als Stichwortgeberin in Form einer Putzfrau, Masseurin oder Taxifahrerin fungieren. Weil jedoch Verbitterung zu nichts führt, habe ich versucht, mich voller Optimismus langsam nach oben zu arbeiten: von der Kleindarstellerin mit zwei Dialogzeilen über den Gastauftritt in einer Sitcom bis zur wiederkehrenden Rolle in einer Fernsehserie. Eines meiner schönsten Erfolgserlebnisse hatte ich bei der TV-Serie „Shit! My Dad Says“, wo ich mit meinem Kurzauftritt bei William Shatner einen Lachanfall ausgelöst habe. Ich dachte: „Wow, du hast gerade Captain Kirk zum Lachen gebracht!“

2014 haben Sie schließlich Ihre erste kleine Kinorolle ergattert – als Bordellangestellte in Paul Thomas Andersons schrägem Krimidrama „Inherent Vice“.

Ja, und ich platzte schier vor Freude. Mein erster Drehtag war eine Autoverfolgungsjagd in einem Canyon außerhalb von L. A., ein Nachtdreh, der bis zum Morgengrauen dauerte. Als ich danach heimfuhr, war ich vor lauter Glück so berauscht, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten wurde. Der Polizist fragte: „Wo kommen Sie denn um diese Zeit her?“ Ich erwiderte stolz: „Von der Arbeit – ich bin Schauspielerin!“

Glauben Sie, er hat Ihnen das abgenommen?

Nun ja, ich trug einen grünen Lidschatten und eine verrückte Frisur, und auf meinem Beifahrersitz lag ein Haufen Zeug, das ich vor lauter Nervosität mitgeschleppt hatte, um für alle Fälle gerüstet zu sein – Essen, Papiertücher, Schlappen, Jacken... Ich denke schon, dass der Cop mir geglaubt hat. Nur ich selbst habe mir nicht geglaubt.

Wie meinen Sie das?

Ich sah mich immer noch nicht als Schauspielerin. Das gelang mir erst ein Jahr später. 2015, nach „Inherent Vice“, drehte ich bloß einen Werbespot für Autos und einen für Kartoffelchips, bekam jedoch kein einziges Film- oder TV-Angebot. Ich war schon kurz davor, den Beruf aufzugeben, als ich für die Uraufführung von Annie Bakers Theaterstück „John“ in New York engagiert wurde, meine erste wirklich gehaltvolle Rolle. Wissen Sie, vor der Kamera und im Schnitt können Sie eine Menge tricksen und auch minder Begabte gut aussehen lassen. Aber ein dreieinhalbstündiges Vier-Personen-Stück überzeugend auf die Bühne zu wuchten, das kriegt nicht jeder Dahergelaufene hin. Nun hatte ich endlich das Selbstvertrauen zu sagen: Ich bin Profi – und bereit für neue Herausforderungen.

Zum Beispiel für die Rolle in Alexander Paynes Kinofilm „Downsizing“. Wie kam sie zu Ihnen?

Alexander gehört seit Jahren zu meinen Lieblingsregisseuren, und als ich hörte, er wolle eine Sci-Fi-Satire drehen, bat ich meinen Agenten, mir das Drehbuch zu organisieren. Ich hoffte auf eine kleine Rolle für mich, vielleicht eine Labortechnikerin mit ein paar Dialogsätzen – was man eben so hofft als Schauspielerin mit vietnamesischen Wurzeln. Bei der Lektüre bin ich fast vom Stuhl gefallen: Heilige Scheiße! Eine Hauptrolle für eine Asiatin! Und dann auch noch eine so fein gearbeitete, vielschichtige, faszinierende Figur wie diese Ngoc Lan: eine mutige, hitzköpfige Dissidentin mit künstlichem Bein, vietnamesischem Akzent, frecher Schnauze und großem Herzen. Sie ist witzig, hilfsbereit und herrisch zugleich, wie eine Kombination aus Charlie Chaplin, Mutter Teresa und einem Diktator. Toll!

Aber Sie mussten die Rolle erst einmal bekommen.

Stimmt. Zunächst musste ich bei einem Casting Director vorsprechen; er nahm drei Szenen mit mir auf Band auf und meinte, ich würde frühestens zwei Monate später wieder von ihm hören. Doch schon am übernächsten Tag rief er mich an und sagte, Alexander habe mein Video gesehen und wolle mich auf einen Kaffee treffen. Tatsächlich trafen wir uns eine Woche später, wobei es keinen Kaffee gab, sondern Linsensuppe. Danach hatte ich das Gefühl, ich hätte mich um Kopf und Kragen geredet, weil ich ja ganz akzentfrei Englisch spreche und wie eine typische Amerikanerin wirke – und weil Alexander, dem Authentizität sehr wichtig ist, eigentlich eine waschechte Vietnamesin suchte.

Was war denn auf Ihrem Casting-Band zu sehen?

Im Grunde genommen das, was man jetzt auch im Film sieht: die komplett durchgestaltete Figur der Ngoc Lan. Das gab wohl auch den Ausschlag – Alexander meinte, niemand außer mir hätte den Sprachrhythmus ihres vietnamesischen Akzents begriffen. Das fiel mir leicht, weil ich ihn sehr genau im Ohr hatte, nachdem ich in New Orleans in einer Gemeinschaft aufgewachsen war, in der alle so sprachen. Meine Eltern klingen bis heute exakt so, wenn sie versuchen, Englisch zu reden. Von ihnen habe ich mich bei der Erschaffung meiner Filmfigur inspirieren lassen – sie ist quasi eine Liebeserklärung an meine Eltern. Mich hat allerdings verblüfft, dass Alexander als Englisch-Muttersprachler offenbar auch ein Gespür für jene Feinheiten besaß, denn die Drehbuchsätze klangen absolut authentisch, ich musste kaum eine Silbe ändern.

Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Matt Damon und Christoph Waltz?

Ein Traum. Mein Wohnwagen stand direkt neben dem von Matt; ich hatte überhaupt zum ersten Mal einen eigenen Wohnwagen am Set und durfte sogar meinen Hund mitbringen. Ich dachte: „Hey, jetzt hast du’s wirklich geschafft – du darfst deinen Hund zur Arbeit mitnehmen!“ Mit Matt habe ich viel gelacht; er schafft es sogar, noch Witze zu reißen, kurz bevor die Kamera läuft, und dann blitzschnell umzuschalten. Man hatte mich gewarnt, er würde Kollegen am Set gern Streiche spielen, aber mich hat er zum Glück verschont. Und Christoph ist ein echter Gentleman: liebenswert, gebildet, intelligent. Es war stets ein Genuss, ihm zuzuhören.

Im Film gibt es eine unglaubliche Szene, in der Sie die beiden dazu überreden, Sie nach Norwegen mitzunehmen. Die Szene fängt sehr witzig an und kippt dann ins Herzzerreißende, wobei Ihnen genau im entscheidenden Moment die Tränen aus den Augen schießen. Können Sie auf Kommando weinen?

Nein. Ich arbeite nicht ergebnisorientiert. Ich denke, wenn man sich gefühlsmäßig in die richtige Stimmung versetzt und die Wucht der Worte spürt, dann wird schon das Richtige passieren. Ob in dem Moment Tränen fließen, finde ich gar nicht entscheidend. Was Sie auf der Leinwand sehen, ist übrigens der erste Versuch: Wir haben die Szene nur einmal gedreht, dann war sie im Kasten. Das liegt aber auch daran, dass sie brillant geschrieben ist.

Wie haben Sie sich das Hinken erarbeitet?

Im Prinzip musste ich für den Film völlig neu gehen lernen. Als Beraterin hatte ich eine Kanadierin, der man – wie Ngoc Lan – das linke Bein unterhalb des Knies amputiert hatte. Sie nahm mich mit in das Reha-Zentrum, in dem sie selbst behandelt worden war; dort arbeitete ich mit ihrer Physiotherapeutin, und auch viele Patienten teilten ihre Erfahrungen mit mir. 20 Prozent aller US-Amerikaner haben eine körperliche Behinderung, aber im Kino kommt das nicht zum Ausdruck. Vor allem findet man in Hollywoodfilmen so gut wie nie eine derart forsche, zupackende, unsentimentale Behinderte wie in „Downsizing“.

Auch Flüchtlinge kommen in Hollywoodfilmen so gut wie nie vor.

Ja, ich finde es großartig, dass unser Film die Frage nach der Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen stellt. Während es in den 70er Jahren noch so etwas wie ein kollektives Mitgefühl gab, wird unsere Gesellschaft heute von Ausgrenzung geprägt. Die meisten Amerikaner werden nie verstehen, was es bedeutet, alles zurückzulassen. Insofern spiegelt „Downsizing“ das Schicksal meiner Eltern und vieler Flüchtlinge wider – nur eben auf kreative, fiktionalisierte Weise. Wenn man schwierige Themen im Kino behandelt, ist es ja wichtig, sie unterhaltsam aufzubereiten, ohne etwas zu verwässern. Und das funktioniert, wie unser Film zeigt, am besten mit Humor. Niemand bringt mich so zum Lachen wie meine Eltern. Ja, kaum zu glauben, aber auch asiatische Einwanderer haben Humor! Es wird höchste Zeit, dass diese Bevölkerungsgruppe im amerikanischen Mainstream-Kino repräsentiert wird. Eine tragende Rolle wie Ngoc Lan ist schon mal ein großer Schritt nach vorn.

Die Frage ist, wie sich diese Entwicklung vorantreiben lässt. Sollte man Rollen, die für Weiße geschrieben wurden, vielleicht auch mal asiatischen Akteuren anbieten?

Klingt super, aber so einfach ist es leider nicht. Es lässt sich ja nicht leugnen, dass es gewisse Unterschiede zwischen mir und einer Weißen, einer Latina oder einer Afroamerikanerin gibt. Und ich möchte spüren, dass ein Autor bedacht hat, was es bedeutet, bestimmte Wurzeln zu haben – die Figuren sollten stimmig und spezifisch ausgearbeitet sein. Mit oberflächlichen Rollen für Asiaten wäre nicht viel gewonnen. Ebenso wenig ist es ein Patentrezept, Frauen Rollen anzubieten, die eigentlich für Männer vorgesehen waren. In manchen Fällen mag das funktionieren. Aber auch Männer und Frauen sind verschieden – und eine langweilige Filmfigur wird nicht automatisch aufregend, nur weil sie von einer Frau verkörpert wird. Ich habe erst neulich eine solche Rolle abgelehnt, weil ich sie uninteressant fand.

Wie sehen denn jetzt Ihre Zukunftspläne aus?

Ich werde meine Projekte weiterhin sorgfältig auswählen. In Los Angeles fühle ich mich mittlerweile wie eine Exotin: Man erwartet von mir, dass ich nun, nach meinem Durchbruch, großspuriger auftrete, ein bestimmtes Image pflege und lukrativen Blockbustern hinterherhechle. Aber all das interessiert mich nicht. Ich lebe weiterhin bescheiden und freue mich auf schräge kleine Filme mit spannenden Themen und sensiblen Regisseuren.

Haben Sie noch Träume?

Ja, tonnenweise! Ich würde wahnsinnig gern mal mit Pedro Almodóvar arbeiten. Und ich träume davon, aus L. A. abzuhauen und eine Weile in der Natur zu leben. Als ich Alexander Payne davon erzählte, meinte er: „Ich leihe dir gern das Wohnmobil aus ,About Schmidt‘.“ Ein verlockendes Angebot! Meine Eltern haben einst geschuftet, damit wir Kinder uns irgendwann schöne Dinge leisten konnten. Aber ich war stets wie ein kleiner Hippie: Ich wollte diese Sachen nie. Auch heute reizen mich schicke Autos, Häuser oder sonstige Reichtümer nicht im Geringsten. Und anders als früher denken meine Eltern inzwischen ähnlich wie ich. Sie betreiben mittlerweile eine kleine Bodega in Mississippi. Als ich sie zur „Downsizing“-Galapremiere einlud, meinten sie: „Nein, danke! Keine Zeit! Die Arbeit ruft!“

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für einTestabo der Sonntagszeitung finden Sie in unserem Aboshop.