Medizin
Kinderseele als Spiegel der Gesellschaft

MZ-Themenwoche: Psychiater wie Dr. Kohlmann und Dr. Niebler erstellen eine Diagnose und schlagen Therapien vor.

21.07.2016 | Stand 16.09.2023, 6:47 Uhr

Die meisten Kinderbilder sind Geschenke an Dr. Bernd Kohlmann. Das im Ordner beschreibt indessen, wie sich ein depressives Mädchen fühlt. Foto: Gaupp

Die Bleistiftzeichnung spricht Bände: Eine Mädchenfigur, der Kopf gesenkt, die langen Haare verdecken teilweise das Gesicht. Wie eine kleine Insel wirkt sie, umgeben von bedrohlicher tiefer Schwärze. Im Büro von Dr. Bernd Kohlmann hängen viele Kinderbilder. Die meisten sind ein Dankeschön der Patienten an den Neumarkter Kinder- und Jugendpsychiater. Diese Zeichnung ist eine Ausnahme: Eine Schülerin wollte in dem Bild ausdrücken, wie sie sich fühlt.

Es gebe viele Jugendliche, die sich „reinstressen“, die Ängste vor Prüfungen entwickeln und großen Druck verspüren, welchen beruflichen Weg sie einmal einschlagen sollen, sagt der 39-Jährige. „Jugendliche denken heute weiter als noch vor 30 Jahren.“ Psychische Probleme rund um das Thema Schule sind deshalb ein Schwerpunkt in seiner Praxis neben familiären Problemen.

Bei seinem Kollegen auf der gegenüberliegenden Seite der Bahnhofstraße sieht es genauso aus. Mit dem ausgehenden Schuljahr werde es etwas ruhiger in seiner Praxis, erzählt Dr. Matthias Niebler. Im Herbst steige die Zahl der Patienten dann wieder stark an. Die häufigste Diagnose: ADHS – Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Wobei der Mediziner gleich klarstellt, dass nicht jedes schwierige Kind unter ADHS leide. Erst wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum sowie in unterschiedlichen Situationen auftreten, könne man eine sichere Diagnose erstellen.

Zappel-Philipp und Struwwelpeter

Schon der Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann habe mit seinem Zappel-Philipp, dem Struwwelpeter und dem Hans-Guck-in-die-Luft schon im 19.Jahrhundert Krankheitsbilder beschrieben wie sie ihm heute begegnen. „Aber: ADHS tritt heute etwas häufiger auf.“ Die Bereitschaft, an ADHS zu erkranken, setze eine hohe genetische Veranlagung voraus, erklärt Dr. Niebler. Besonders gesellschaftliche, aber auch biologische Faktoren wie die Zunahme von Frühgeburten sorgten für eine heute etwas höhere Zahl an ADHS-erkrankten Kindern. Eine ausführliche Anamnese angefangen von Schwangerschaft und Geburt bis hin zu Erkrankungen in der Familie ist deshalb für ihn unverzichtbar.

„Die meisten Kinder sind per se gesund. Sie entwickeln durch die Umstände Symptome.“Dr. Bernd Kohlmann

Darüber hinaus sind sich die beiden Fachärzte darin einig, dass nicht unbedingt sehr viel mehr Kinder psychisch auffällig seien – jedoch die Bereitschaft zugenommen habe, sich professionelle Hilfe zu holen. „Es wird nicht mehr als Schande empfunden“, sagt Kohlmann.

Entgegen landläufiger Vorurteile entstehe nach einer ADHS-Diagnose aber kein Automatismus mit der Verabreichung von Medikamenten, betont Niebler. In einer intakten Familie könnten zum Teil eine Beratung und erzieherische Veränderungen ausreichen.

Auch Dr. Bernd Kohlmann tritt dem Vorurteil entgegen, es werde gleich immer ein Medikament verschrieben. Als Psychiater stellten sie eine Diagnose, die in der Regel in drei bis vier Sitzungen getroffen werde. Dann werde den Eltern ein Therapievorschlag unterbreitet – der ganz unterschiedlich ausfallen könne und weitere Beratungsstellen mit einschließe. „Die meisten Kinder sind per se gesund. Sie entwickeln durch die Umstände Symptome“, sagt Kohlmann. Deshalb brauche manchmal nicht das Kind eine Therapie, sondern die Familie. Anpassungsstörung nennt man dann die Reaktion des Kindes – beispielsweise, wenn sich die Eltern getrennt haben.

Man kann nicht zu vorsichtig sein

Jugendliche – Mädchen häufiger als Jungen – entwickelten als Reaktion auf belastende Umstände depressive Verstimmungen bis hin zu suizidalen Krisen. Auch Borderline-Störungen mit Stimmungsschwankungen zählten zum Alltag in der Praxis. Grundsätzlich rät er Eltern, Angehörigen, Freunden oder Lehrern, auffällige Verhaltensweisen oder Äußerungen von Jugendlichen ernst zu nehmen. Selbstverständlich sei es nicht immer leicht, eine pubertäre Phase von einer psychisch bedenklichen Störung zu unterscheiden. Deshalb sollte lieber zu früh oder zu oft ein Mediziner aufgesucht werden als zu spät.

Dr. Bernd Kohlmann gibt Eltern Tipps:

„Manche Eltern fühlen sich unsicher und wollen sich von mir eher eine Bestätigung holen, dass mit ihrem Kind alles in Ordnung ist“, bestätigt Kollege Kohlmann. Zudem könne man bei kleinen Auffälligkeiten frühzeitig reagieren und gegensteuern, so dass im Zweifelsfall eine psychische Erkrankung im Vorfeld schon abgewendet werde.

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Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Bernd Kohlmann bietet am Donnerstag, 21. Juli, eineunverbindliche Telefonsprechstundean.

Laut Studien leidet jedes fünfte Kind unter psychischen Problemen.

Vor allem bei Mädchen äußern sich Probleme nicht selten in Form einer Essstörung.Zwei Betroffene erzählen im MZ-Gespräch.

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