Projekt
Schüler bestimmen Lerntempo

Die Lindenschule ist eine von 80 Schulen in Bayern, in denen Erst- und Zweitklässler gemeinsam lernen und individuell gefördert werden.

01.10.2012 | Stand 16.09.2023, 21:05 Uhr
Elisabeth Hirzinger

Ingrid Donaubauer (r.) und Diana Neidhardt sind von der Idee der Flexiblen Grundschule überzeugt. Foto: Hirzinger

„Flexible Grundschule“ heißt der Modellversuch, für den im Freistaat bislang 80 Schulen ausgewählt wurden. Mit dabei, als einzige Schule im Schulamtsbezirk, ist die Lindenschule. Deren Schulleiterin Ingrid Donaubauer hatte sich im Dezember 2011 für das Projekt beworben und drei Monate später den Zuschlag bekommen.

Interessiert hatten sich für den Schulversuch viele Schulen. Wie das Bayerische Kultusministerium mitteilt, waren bei der Stiftung Bildungspakt Bayern „zahlreiche Bewerbungen“ eingegangen.

Warum die Lindenschule das Rennen machte? „Wir haben dargestellt, dass wir den Schulversuch gut brauchen könnten“, sagt Schulleiterin Ingrid Donaubauer. Eines vorweg: Die Lindenschule hat das Modell nicht gebraucht, um den Schulstandort zu sichern. „Bei uns sind die Schülerzahlen nicht rückläufig“, betont Ingrid Donaubauer im Gespräch mit der MZ.

Aber was hat für die Juroren der Stiftung den Ausschlag gegeben? Darüber können Ingrid Donaubauer und ihre Stellvertreterin Diana Neidhardt nur spekulieren. Eine Rolle werde wohl die „hohe Heterogenität“ an der Schule gespielt haben, vermutet Donaubauer. Der Sprengel sei nämlich „sozial sehr durchmischt“. Der Migrationshintergrund liegt bei 68 Prozent.

Diese Schüler werden von einer individuellen Lernförderung sicher profitieren. Aber nicht nur sie. In der „flexiblen Grundschule“ werden nämlich alle Schüler entwicklungsgerecht gefördert. Und, das ist das Besondere, sie können ihr Lerntempo selbst bestimmen.

Jedes Kind, so die Grundidee, soll für den Lernstoff der ersten beiden Jahrgangsstufen die Zeit bekommen, die es braucht. Die individuelle Persönlichkeit jedes Kindes, seine Talente und seine Interessen, stehen vom ersten Schultag an im Mittelpunkt. So weit die Theorie.

Wie das ambitionierte Modell in der Praxis umgesetzt werden kann, darüber haben sich Ingrid Donaubauer und Diana Neidhardt in den vergangenen Monaten Gedanken gemacht. Gemeinsam mit den Lehrkräften, die in den Eingangsstufen unterrichten, wurde in wöchentlichen Arbeitstreffen die Umsetzung des Modellversuchs vorbereitet.

Aus Sicht der Schulleiterinnen sind die Voraussetzungen für einen guten Start an der Lindenschule gegeben. Ingrid Donaubauer verweist auf die guten Erfahrungen, die die Schule mit dem Bildungspakt beim „GribS“-Projekt gemacht hat, führt die gute Ausstattung mit Labor, Bücherei und Computerraum ins Feld und macht auf die Kooperation mit den umliegenden Kindergärten aufmerksam, die „optimal“ laufe. Nicht zuletzt dank Diana Neidhardt übrigens, die als Kooperationsbeauftragte des Schulamtsbezirks die Eltern mit einbezieht.

Ingrid Donaubauer und Diana Neidhardt, die auch das neue Projekt an der Schule koordiniert, haben deshalb schon im Vorfeld Aufklärungsarbeit geleistet. Die Resonanz war zum großen Teil „sehr positiv“, sagen die Schulleiterinnen, die nicht verschweigen wollen, dass es auch Kritik gab.

Manche Eltern hätten sich gefragt, warum ein bewährtes System aufgebrochen werde, erzählt Ingrid Donaubauer und hält dagegen, dass es wichtig sei, offen für neue Modelle zu sein. Und wenn sie nicht von dem Modell der „Flexiblen Grundschule“ überzeugt gewesen wäre, „wenn wir nicht glauben würden, dass es eine positive Sache für die Schule ist“, sagt Donaubauer, „dann hätten wir das doch nie gemacht“.

Am 13. September ist das Modell gestartet, mit fünf Klassen, in denen 110 Schüler unterrichtet werden – 60 Erstklässler zusammen mit 50 Zweitklässlern, jeweils rund zehn von jeder Jahrgangsstufe in einem Klassenzimmer. In der sogenannten „Eingangsstufe“ sitzen in der Regel immer ein Erstklässler neben einem Zweitklässler. Das ist so gewollt, damit die Schüler von- und miteinander lernen können.

Das Lernen in den flexiblen Klassen ist ein Geben und Nehmen. Ältere Schüler können den Neulingen helfen, gute Schulanfänger dürfen schon mal bei den Zweitklässlern mitmachen. Entscheidend ist, dass die Lehrer jeden Schüler nach seinen Fähigkeiten fördern und fordern. Dafür gibt es in den Klassenzimmern unterschiedlichstes Arbeitsmaterial.

Wichtig ist deshalb, dass schon beim Start festgestellt wird, was welches Kind schon kann. Die „Eingangsdiagnostik“ stützt sich dabei auf einen Test. Begleitend werden die Kinder auch beobachtet. Es ist Aufgabe der einzelnen Lehrer, zu schauen, wie sich die Schüler entwickeln und die Übungen dem jeweiligen Leistungsstand anzupassen.

In diesem flexiblen Modell sehen die Schulleiterinnen viele Vorteile: Eltern, die sich nicht sicher sind, ob ihr Kind schulfähig ist, werden es wahrscheinlich nicht zurückstellen lassen, wenn sie wissen, dass ihr Kind für die ersten zwei Jahrgangsstufen auch drei Jahre brauchen darf. Gleichzeitig kann ein Kind, das schon bei Schuleintritt rechnen und lesen kann, sich bald den Zweitklässlern anschließen.

Ingrid Donaubauer und Diana Neidhardt machen sich keine Illusionen. Die Zahl der Schüler, die die Grundschule in drei statt in vier Jahren durchlaufen, wird auch in Zukunft in einem überschaubaren Rahmen bleiben. Ingrid Donaubauer ist seit acht Jahren an der Lindenschule und in der Zeit, erzählt sie, hat nur einmal ein Mädchen eine Klasse übersprungen.

Entscheidend sei, dass die Kinder nach ihren Begabungen, ihren Stärken und Schwächen gefördert werden. Dass Maxl nicht mehr die Ziffernlehre durchlaufen muss, wenn er schon im Hunderterbereich rechnen kann. Und dass er aber trotzdem lernt, die Rechenverfahren zu hinterfragen. So schafft er leichter den Anschluss in die dritte Klasse.

Erstklässler und Zweitklässler, die in einem Raum gemeinsam und trotzdem individuell unterrichtet werden – ist da nicht ein hoher Lärmpegel vorprogrammiert? Das wird sich zeigen, sagen Ingrid Donaubauer und Diana Neidhardt. Sie sehen das pragmatisch: „Offene Lernformen haben einfach eine andere Arbeitslautstärke“.

Das Budget für den Modellversuch ist nicht üppig ausgefallen. Gerade mal drei zusätzliche Differenzierungsstunden pro Woche und Klasse und 1000 Euro, die in Fortbildungen und Übungsmaterial gesteckt werden sollen. Doch das kann die Schulleiterinnen nicht schrecken. Sie sind vom Erfolg des neuen Schulmodells überzeugt.

Ob sie keine Zweifel hat? Diana Neidhardt überlegt kurz: „Allenfalls, dass ich meine eigenen, perfektionistischen Ziele nicht erreiche“, sagt sie, aber dann schütteln sie und ihre Chefin den Kopf. Nein, das glauben sie dann doch nicht.